Virtuelle Zusammenarbeit in der Praxis: Interview mit Jochim Selzer, Mitglied im Chaos Computer Club

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Jochim Selzer arbeitet im Bereich „Webauftritt“ eines großen deutschen Logisitikunternehmens. Seit seinem Einstieg dort, konnte er Erfahrungen mit virtuellen Teams in den unterschiedlichsten Konstellationen sammeln. Nicht nur als Teammitglied, auch als Führungskraft kennt er die Vor- und Nachteile virtueller Zusammenarbeit. Um deren praktische Seite näher zu beleuchten, hat er uns Rede und Antwort gestanden.

  • Seit wann arbeiten Sie ungefähr in virtuellen Teams?

Arbeit in virtuellen Teams gab es bei uns schon, bevor ich im Jahr 2001 eingestiegen bin. Unsere Firma war damals über 11 Standorte in Deutschland verteilt, und wir hatten gar keine andere Chance, als standortübergreifend zu arbeiten. Zwar haben wir zwischenzeitlich in Deutschland alle Standorte bis auf zwei geschlossen, dafür haben wir jetzt Rechenzentren in Prag, Mechanicsburg (USA) und Cyberjaya (Malaysia). Die für den 24/7-Betrieb zuständigen Teams sind mit Leuten aus den drei Rechenzentren besetzt, so dass immer jemand erreichbar ist.

  • Wie sieht Ihre Arbeit in virtuellen Teams ganz praktisch aus? Wie oft kommunizieren Sie mit anderen Teammitgliedern, über welche Medien? Gibt es auch Treffen abseits der virtuellen Welt?

Die meiste Kommunikation geschieht per Mail. Meistens kommt es bei uns darauf an, möglichst präzise Informationen zu haben, auf die man sich später auch berufen kann. Wenn es schneller gehen soll, aber nicht sofortige Reaktionen nötig sind, chatten wir sehr viel. Das ist insbesondere dann nötig, wenn wir Absprachen treffen müssen. Zum IP-Telefon greifen wir für regelmäßige Telefonkonferenzen oder wenn es wirklich dringend ist. Oft nutzen wir dabei die Möglichkeit, den eigenen Bildschirm freizugeben und so den Anderen eine Präsentation zu zeigen oder das, woran man gerade arbeitet. Allein schon wegen der sprachlichen Barrieren bevorzugen die meisten von uns für internationale 1-zu-1-Kommunikation allerdings den Chat.

  • Wo sehen Sie Vorteile der virtuellen Zusammenarbeit?

Wir sparen uns viele Dienstreisen. Außerdem haben wir endlich gelernt, dass jemand nicht genau dann arbeitet, wenn er für alle sichtbar an seinem Schreibtisch sitzt, sondern dass manche Dinge deutlich effizienter erledigt werden, wenn die Kollegen sich aussuchen können, wo sie gerade arbeiten. Ich habe schon oft Telefonkonferenzen gehalten, während ich unterwegs war. Das Einzige, was ich dazu brauche, ist ein stabiler Internetzugang, den ich zur Not mit meinem Smartphone und Tethering bekomme.

Wir sind Menschen, keine Maschinen.

  • Was sind in Ihren Augen die größten Nachteile?

So schwer es manchem Projektleiter fällt, das zu verstehen: Wir sind Menschen, keine Maschinen. Unsere Kommunikation hat neben der Sachebene viele weitere Informationen, die wir mit Tonfall, Wortwahl, Sprachmelodie und Gestik transportieren. Elektronische Kommunikation lässt nur einen Teil davon durch, was oft zu Missverständnissen führt. Ich habe Kollegen, die man für jede einzelne Mail eigentlich abmahnen müsste, die aber, wenn sie am Schreibtisch gegenüber sitzen, deutlich freundlicher rüberkommen. Ich habe mehrfach wochenlang nicht vorankommende Projekte einfach dadurch wieder ans Laufen bringen können, indem ich mich mit den Leuten getroffen, eine Stunde mit ihnen geredet habe und abends vielleicht noch mit ihnen Essen gegangen bin. Das wird aber nicht gern gesehen. Dienstreisen sind etwas für die wirklich wichtigen Leute mit „Manager“ oder „Head of“ in der Stellenbezeichnung. Die nutzlosen Typen aus dem Maschinenraum sollen brav Kohlen schippen und nicht Geld auf Lustreisen verbrennen.

Virtuelle Zusammenarbeit ist auch Übungssache. Wer seine analogen Unsitten in die digitale Kommunikation rüberrettet, wird keine Vorteile damit haben. Wenn ich zu faul bin, selbst zu denken, geschweige denn, sauber hinzuschreiben, was ich eigentlich will, und statt dessen ins nächste Büro renne, um den Luten auf die Nerven zu gehen, wird meine Arbeit auch nicht besser, wenn ich künftig zum Telefonhörer greife. Natürlich kann Telefonieren sinnvoll sein, aber es heißt eben auch: Egal, woran du gerade arbeitest, ob du gerade in der Nase bohrst, konzentriert an einem Konzeptpapier arbeitest oder verzweifelt versuchst, einen zusammengebrochenen Webauftritt zu retten und die Firma vor Millionenverlusten zu bewahren, ich möchte, dass du jetzt und hier deine gesamte Aufmerksamkeit auf mein Gerede konzentrierst.

Virtuelle Zusammenarbeit ist Übungssache.

Zum Glück bieten die neuen Kommunikationsformen auch die Möglichkeit, Leute zu blockieren.

Virtuelle Teams haben oft einen loseren Zusammenhalt als Abteilungen, deren Mitglieder alle ihre Büros auf dem gleichen Gang haben. Entsprechen kann es passieren, dass Leute, die zum Thema „Arbeiten“ ohnehin ein distanziertes Verhältnis pflegen, in virtuellen Teams noch besser untertauchen können. Ich hatte mehrfach kritische Situationen, in denen Teammitglieder mit fadenscheinigen Ausreden die Arbeit verweigerten und es keine Möglichkeit gab, sie aus ihrer Lethargie zu reißen, weil sich niemand fand, der sich dafür zuständig fühlte, den Laden am Laufen zu halten.

  • Welche „besonderen“ Voraussetzungen sollten Teammitglieder in einem virtuellen Team mitbringen, damit erfolgreich zusammen gearbeitet werden kann?

Grundlage ist, dass Informationen geteilt werden. Es mag viele Leute verblüffen, aber das Wort „Handbuch“ heißt, dass ich mein Wissen dauerhaft niederschreibe und nicht mit Händewedeln und Gekritzel auf einer Tafel so lange auf Leute einrede, bis sie entnervt erklären, sie hätten verstanden. Weiterhin wäre die Erkenntnis sinnvoll, dass ein Mensch selbst dann existiert, wenn man nicht gerade seine Augen auf ihn gerichtet hat. Ich kenne Teams, in denen sich Leute beschweren, Mitarbeiter seien „nicht da“, was heißt: Sie haben sie nicht an ihrem gewohnten Schreibtisch angetroffen. Auf die Idee, eine Mail zu schreiben, sie anzuchatten, anzurufen oder einfach nur ein Büro weiter zu gehen, kommen sie nicht.

Wichtig ist auch, sich klar zu werden, wann ich welches Kommunikationsmedium verwende. Ich sollte nicht per Mail chatten, per Telefon Anleitungen verschicken oder im Chat Mails schreiben wollen. Alle drei Kommunikationsformen haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile, unterschiedliche Beständigkeit und verschiedene Reaktionsgeschwindigkeiten.

Unternehmen sollten nicht einfach ihre analogen Prozesse auf digitale Medien umwälzen. Wer Urlaubsanträge früher per Fax und heute per Mail verschickt, hat nicht verstanden, was elektronische Formulare sind. Wer Dokumentationen weiterhin mit Word-Vorlagen in DIN-A4 mit Lochrand und Seitennummern erstellen lässt, obwohl diese Dokumente nie ausgedruckt werden, steht in seinen Träumen immer noch vor dem kleiderschrankgroßen Agfa-Kopierer und klebt mit dem Pritt-Stift seine Vorlagen zusammen.

  • Gibt es bestimmte Situationen, in denen es in virtuellen Teams eher zu Konflikten kommt, als in lokalen Teams?

Humor, Sarkasmus und Ironie kommen bei eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten schnell falsch an. Gerade bei internationalen Teams, die sich nicht in ihrer Muttersprache unterhalten können, kommen kulturelle Unterschiede hinzu. In einer Sprache, in der ich mich nicht perfekt auskenne, einen Witz zu reißen, der sich an jemanden richtet, der diese Sprache ebenfalls nur eingeschränkt beherrscht und dann auch noch einen anderen kulturellen Hintergrund hat, kann sehr gefährlich sein.

Nur, weil eine Firma Diensttelefone an ihre Angestellten austeilt, heißt das nicht, dass sie sich fortan in 24/7-Rufbereitschaft befinden.

  • Was ist aus Ihrer Sicht der größte Unterschied zwischen Führungsaufgaben in einem lokalen Team und den Aufgaben in einem virtuellen Team?

Ehrlich gesagt sehe ich kaum Unterschiede. Micromanagement, also das kleinteilige Einmischen, ist sowohl in lokalen als auch in virtuellen Teams eine schlechte Idee. Ich muss in beiden Situationen die Balance finden zwischen ständiger Kontrolle und dem Loslassen im Vertrauen, dass die Mitglieder auch selbständig arbeiten werden.

  • Welche Kompetenzen sollte eine Führungskraft von virtuellen Teams mitbringen?

Es ist gut möglich, dass ich das alles zu naiv sehe, aber ich behaupte, die grundsätzlichen Kompetenzen unterscheiden sich nicht wesentlich zwischen lokalen oder virtuellen Teams. Führungskräfte sollten sich eher als Vorarbeiter nicht als Befehlsgeber sehen. Folgende, in Deutschland weit verbreitete Auffassung, halte ich für ausgemachten Blödsinn: „Ich habe PRINCE2, PMBOK,  SCRUM, ITIL und was auch immer die Zertifizierungsindustrie gerade aus dem Ärmel schüttelt mit ganz tollen Zertifikaten abgeschlossen. Management ist ein generischer Vorgang. Ob ich ein Krankenhaus, eine Autofabrik oder ein IT-Unternehmen leite, ist aus meiner Sicht völlig egal. Ich muss nur wollen, und meine Minions müssen machen“.

Wer sein sechsstelliges Gehalt damit begründet, er müsse ja so wahnsinnig viel Verantwortung tragen, sollte das dann auch und nicht jeden Fehler aufs Team abwälzen.

Nur, weil eine Firma Diensttelefone an ihre Angestellten austeilt, heißt das nicht, dass sie sich fortan in 24/7-Rufbereitschaft befinden. Wenn ich jemanden nach Feierabend anrufe, sollte ich einen sehr guten Grund dafür haben. Höflicherweise sollte ich eine SMS oder eine IM schicken und den Teammitgliedern die Wahl überlassen, sie zu lesen. Gerade in virtuellen Teams sollte es immer eine ordentliche Stellvertreterregelung geben. In der Praxis heißt das: Wenn jemand nicht da ist, wäre es möglicherweise angeraten, mich an dessen Vertretung zu wenden, statt ungefragt seine Aufgabenliste auf Vorrat zu füllen.

Vielen Dank für das Interview und die deutlichen Worte, die die Besonderheiten der virtuellen Zusammenarbeit in der Praxis anschaulich machen.

Über den Autor

Prof. Dr. Magdalena Bathen-Gabriel

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