Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungsfaktoren: Inhalte und Verfahren

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Seit 2013 besteht die arbeitsschutzgesetzliche Pflicht, zusätzlich zu der Ermittlung von Gefährdungen z.B. durch Arbeitsstoffe, Maschinen oder durch physikalische oder chemische Einwirkungen auch Gefährdungen durch psychische Belastungen zu beurteilen.  Grund dafür ist der seit ca. 20 Jahren kontinuierliche Anstieg von Arbeitsunfähigkeitstagen, die durch psychische Erkrankungen verursacht werden. Spitzenreiter unter den psychischen Erkrankungen sind wiederum affektive (z.B. Depressionen) und Belastungsstörungen (z.B. akute Belastungsreaktion). Mit anderen Worten: Beschäftigte leiden vermehrt unter Belastungen, die zu chronischem Stress führen. Und Stress macht krank.

In diesem Artikel wollen wir Ihnen die typischen Inhalte und die gängigen Verfahren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen vorstellen.

Inhalte der Gefährdungsbeurteilung

Aus welchen Teilbereichen der Arbeit entstehen typischerweise psychische Belastungen? Grundsätzlich unterscheidet man vier Merkmalsbereiche, aus denen unterschiedliche Belastungsformen resultieren können.

Belastungen der Arbeitsaufgabe und des Arbeitsinhalts

Dieser Merkmalsbereich ist der umfassendste Belastungsbereich. Er beinhaltet:

  • Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe: Kritische Belastungen ergeben sich, wenn die Arbeitsaufgabe aus der Wiederholung ein- und desselben Arbeitsganges besteht (d.h. die Arbeitsaufgabe ist unvollständig), die Tätigkeit eine über lange Zeit aufrecht zu erhaltende Daueraufmerksamkeit erfordert oder die Tätigkeit dauerhaft anspruchsvolle kognitive Leistungen erfordert, ohne zwischendurch durch weniger anspruchsvolle Tätigkeiten abgelöst zu werden.
  • Handlungsspielraum: Kritische Belastungen ergeben sich aus einem zu geringen zeitlichen Spielraum (z.B. durch festgelegte Zeiten, wann welche Arbeit erledigt sein muss oder durch die fehlende Möglichkeit, die Arbeit kurzzeitig zu unterbrechen) und einem zu geringen inhaltlichen Spielraum (z.B. wenn Arbeitsmethoden strikt festgelegt sind oder wenn die Person keinerlei Einfluss auf den Inhalt ihrer Arbeit hat).
  • Informationen: Kritische Belastungen können einerseits durch ein Informationsdefizit entstehen (z.B. durch unvollständige oder zu spät erbrachte Informationen), andererseits auch durch Informationsüberflutung (z.B. durch Massen E-Mails).
  • Verantwortung: Kritische Belastungen entstehen durch unklare oder widersprüchliche Verantwortungsbereiche (z.B. Abteilungsleitung ohne Weisungsbefugnis), aber auch, wenn trotz geeigneter Qualifikation zu wenig Verantwortung besteht oder wenn zu viel Verantwortung bei zu geringer Qualifikation vorliegt.
  • Qualifikation: Kurz gesagt entstehen kritische Belastungen dann, wenn die tatsächliche Qualifikation nicht mit der auszuführenden Tätigkeit übereinstimmt (Über- bzw. Unterforderung).
  • Emotionale Inanspruchnahme: Kritische Belastungen aus diesem Bereich sind vorwiegend in Dienstleistungsberufen anzutreffen. Sie entstehen durch Anweisungen, welche Gefühle zu zeigen sind (z.B. Freundlichkeit gegenüber Kunden) und welche Gefühle zu verbergen sind, oder aber auch aufgrund der Bedrohung durch verbale oder körperliche Gewalt durch andere Personen.

Belastungen durch die Arbeitsorganisation

  • Arbeitszeit: Dieses wichtige Feld umfasst eine Vielzahl von kritischen Belastungen, wie häufige Überstunden, Belastungen durch Schichtpläne und Rufbereitschaften.
  • Arbeitsablauf: Hier kommen psychische Belastungen z.B. durch Verständigungsprobleme zwischen verschiedenen Abteilungen, durch unvorhergesehene zusätzliche Arbeitsaufgaben oder durch häufige, unvorhergesehene Störungen und Unterbrechungen zustande.
  • Kommunikation und Kooperation: Kritische Belastungen treten dann auf, wenn die Kommunikation zur Abstimmung untereinander fehlt, zu gering ausfällt oder nur eingeschränkt stattfinden kann, z.B. bei virtueller Zusammenarbeit oder bei großen räumlichen Entfernungen.

Belastungen durch soziale Beziehungen

Auch soziale Beziehungen können kritische Belastungen bei der Arbeit darstellen. Hier wird unterteilt in Beziehungen zu den Kollegen/innen und Beziehungen zu Vorgesetzten:

  • Beziehungen zu Kollegen/innen: Belastungen können auftreten, wenn keine oder zu wenig soziale Unterstützung möglich ist oder wenn Konflikte und Streitereien (z.B. durch Mobbing oder durch unklare Aufgabenverteilungen) den Arbeitsalltag dominieren.
  • Beziehungen zu Vorgesetzten: ein häufiger Belastungsfaktor ist die unzureichende Anerkennung bzw. die zu geringe soziale Unterstützung durch Vorgesetzte. Gründe können darin liegen, dass die Arbeitsgruppe zu groß ist, der Vorgesetzte mit zu vielen Aufgaben beschäftigt ist, die Führungsaufgabe vernachlässigt oder zu einem autoritären Führungsstil neigt.

Belastungen durch die Arbeitsumgebung

Typische Belastungen durch die Arbeitsumgebung können durch physikalische Gegebenheiten, wie Lärm oder Hitze entstehen oder durch physische Faktoren, wie eine ungünstige ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes. Weitere Faktoren sind:

  • Arbeitsplatzgestaltung: Belastungsfaktoren stellen hier z.B. räumliche Arbeitsverhältnisse dar, wie ausschließlich stehende oder sitzende Tätigkeiten oder eine eingeschränkte Bewegungsfreiheit.
  • Arbeitsmittel: Auch in den Arbeitsmitteln können Ursachen psychischer Belastungen liegen, z.B. wenn diese für die Tätigkeit ungeeignet oder defekt sind oder wenn die notwendige Software nicht bedient werden kann, weil Daten oder Informationen fehlen.

Verfahren der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungsfaktoren

Je nach Größe des Unternehmens, Anzahl unterschiedlicher Tätigkeitsbereiche und der zu erwartenden Ergebnisse können unterschiedliche Verfahren zur Gefährdungsbeurteilung herangezogen werden. Wichtig ist jedoch immer: Das Ziel muss sein, ein möglichst ehrliches und genaues Bild über die psychischen Belastungsfaktoren zu erhalten. Diese Maßgabe bestimmt auch das Verfahren und die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung.

Zunächst einmal müssen jedoch Tätigkeiten und Bereiche festgelegt werden, deren psychische Belastungen ermittelt werden sollen.  Was sich in Bezug auf die psychischen Belastungen ähnelt, kann als Einheit zusammengefasst werden. Gruppieren kann man entweder nach der Art der ausgeübten Tätigkeit bzw. nach Berufsgruppen (z.B. Führungskräfte, Pflegepersonal, Techniker, Verkäufer im Einzelhandel) oder nach Organisationsbereichen (z.B. Mitarbeiter in der Verwaltung, im Lager, im Kundenservice Innendienst, im Kundenservice Außendienst).

Für die Ermittlung der psychischen Belastungsfaktoren bieten sich im Allgemeinen drei unterschiedliche Verfahren an:

Standardisierte, schriftliche Mitarbeiterbefragung:

Bei der schriftlichen Befragung werden die psychischen Belastungsfaktoren anhand eines Fragebogens ermittelt. Die einzelnen Fragen müssen dabei die Inhaltbereiche Arbeitsaufgabe/ Arbeitsinhalt, Arbeitsorganisation, soziale Beziehungen und Arbeitsumgebung abdecken. Eine Beispielfrage aus dem Bereich der Arbeitsorganisation lautet: „Werden Dienstpläne mindestens zwei Wochen im Voraus bekannt gegeben?“. Die Beantwortung der Fragen erfolgt in der Regel über das Ankreuzen verschiedener Antwortoptionen (trifft nicht zu, trifft eher nicht zu, trifft eher zu, trifft zu). Der Fragebogen kann als Papierversion oder als Online-Fragebogen entworfen und ausgefüllt werden. Die Konstruktion eines solchen Fragebogens kann sehr aufwendig sein. Daher bietet es sich an, auf bereits bestehende Instrumente zurückzugreifen und diese ggf. an die eigenen Bedürfnisse und Besonderheiten des Unternehmens anzupassen. Beispiele für standardisierte und bereits praxiserprobte Fragebögen sind der PegA-Fragebogen der Berufsgenossenschaft für Handel und Warenlogistik oder der IMPULS-Test 2. Die Berufsgenossenschaften und externe Dienstleister (gerne unterstütze ich Sie – siehe letzter Absatz) bieten Beratung und Hilfe bei der Durchführung und Auswertung der Fragebögen an bzw. übernehmen diese. Fragebögen erzeugen quantitative Daten und ermöglichen eine statistische Auswertung von Wirkungszusammenhängen. Damit können die Verantwortlichen im Unternehmen signifikante Unterschiede in den psychischen Belastungen zwischen Tätigkeitsbereichen erkennen oder Vorhersagen treffen, welche Auswirkungen bei welchen Maßnahmen zu erwarten sind.

Hinweise für die praktische Durchführung:

Die Teilnahme an der Befragung muss immer anonym und freiwillig erfolgen. Leider hört man häufig, dass solche Fragebögen ein Bestandteil von Mitarbeitergesprächen sind, persönlich übergeben und persönlich wieder eingesammelt werden. Der Mitarbeiter selbst schließt daraus, dass nachvollziehbar ist, inwiefern er sich persönlich belastet fühlt – und antwortet nicht ehrlich. Der Datenschutz spielt eine wichtige Rolle. Bei der Bildung von Untergruppen, Bereichen bzw. Abteilungen, deren Ergebnisse der Befragung zusammengefasst werden sollen, sollte beachtet werden, dass sie theoretisch mindestens 10 Personen umfassen. Tatsächlich müssten mindestens 5 Personen den Fragebogen auch ausgefüllt abgegeben haben, damit eine Auswertung möglich ist. Rückschlüsse auf die individuellen Personen dürfen nicht möglich sein.

Um eine möglichst hohe Rücklaufquote zu erreichen, empfiehlt es sich, auf die Kommunikation und Information über die Befragung besonderen Wert zu legen. Eine E-Mail an alle reicht sicher nicht aus. Die Mitarbeiter müssen den Sinn der Befragung nachvollziehen können und einen positiven Nutzen für sich selbst erkennen können. Organisatorische Fragen, wie „Wann startet die Erhebung?“, „Bis wann kann man teilnehmen?“, „Wo muss der Fragebogen abgegeben werden?“, „An wen kann ich meine Fragen stellen?“, sollten im Voraus hinreichend geklärt werden. Die Vorgesetzten sind dabei besser immer früher informiert, sodass sie ihren Mitarbeitern Informationen und Antworten liefern können. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der Rahmen, in dem der Fragebogen ausgefüllt werden soll: Wird darauf bestanden, dass der Fragebogen nicht in der Arbeitszeit bearbeitet werden darf, wird man wenig Akzeptanz und Bereitschaft bei den Mitarbeitern erzeugen. Mitarbeitern, die sich während des Befragungszeitraums auf Dienstreise oder im Urlaub befinden oder die schlichtweg krank sind, kann ein alternativer Weg der Teilnahme angeboten werden.

Arbeitsplatzbegehungen, Beobachtungen:

Bei der Arbeitsplatzbegehung ermitteln fachkundige, geschulte Personen die psychischen Belastungen direkt am Ort des Geschehens. Diese Personen können Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Führungskräfte oder externe Experten sein. Die Ermittlung der Belastungen erfolgt über eine Beobachtung und zusätzlich häufig über kurze Interviews mit ausgewählten Mitarbeitern. Vorteil dieses Verfahrens ist die Erfassung der Belastungen aus objektiver Sicht. In großen Unternehmen mit vielen unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen ist dieses Verfahren jedoch sehr aufwendig und zeitintensiv.

Hinweise für die praktische Durchführung:

Die Beobachter selbst können selbstverständlich nicht einfach loslegen und nach eigenem Ermessen die psychischen Belastungen ermitteln. Die Personen sollten in der Durchführung von objektiven Beobachtungen geschult sein. Vor der Beobachtung werden Bewertungsmaßstäbe festgelegt, schließlich sollten ja die unterschiedlichen Quellen psychischer Belastungsfaktoren abgedeckt sein. Zu groß ist die Gefahr, dass sich subjektive Empfindungen und unterschiedliche Gewichtungen in den Bewertungen niederschlagen und das Ergebnis verzerren. Darüber hinaus ist die Rolle des zu beobachtenden/ zu befragenden Mitarbeiters dringend zu beachten: Die Tatsache, dass man beobachtet wird, kann alleine große Verzerrungen und Effekte hervorrufen. So wurde in den 1920er Jahren eine Studie in den Hawthorne-Werken über die Auswirkungen verschiedener Umgebungsbedingungen durchgeführt (z.B. unterschiedliche Lichtverhältnisse). Das Ergebnis war, dass die alleinige Tatsache, Teil einer Untersuchung zu sein, das Arbeitsverhalten positiv beeinflusste, egal welche Bedingungen getestet wurden (sog. „Hawthorne-Effekt“).

Analyseworkshops:

Psychische Belastungen können auch mündlich in einer Diskussionsrunde und im Erfahrungsaustausch ermittelt werden. Die Arbeitssituationsanalyse eignet sich dafür besonders gut. Sie ist ein Gruppendiskussionsverfahren zur Ermittlung von Arbeitsbelastungen aus der Sicht der Mitarbeiter. In einem strukturierten Gruppeninterview werden dabei ca. 10 bis 15 Mitarbeiter gleichzeitig befragt, die Befragung von Führungskräften erfolgt in gesonderten Gruppendiskussionen. Eine Arbeitssituationsanalyse erfolgt typischerweise in vier Schritten: Im ersten Schritt werden die Teilnehmer befragt, ob sie eine Veränderung ihrer Arbeitssituation für nicht wichtig, teilweise wichtig oder sehr wichtig halten. Im zweiten Schritt wird dann ermittelt, in welchen Bereichen der Arbeitssituation (z.B. Arbeitsumgebung, soziales Klima, Arbeitsorganisation etc.) eine Veränderung eintreten sollte. Im dritten Schritt werden dann die meist genannten Arbeitsbereiche diskutiert und priorisiert, um im vierten Schritt Veränderungsvorschläge und Verbesserungswünsche zu sammeln und zu dokumentieren. Aus allen durchgeführten Gruppenanalysen werden die Äußerungen und Verbesserungsvorschläge gesammelt. Der Ergebnisbericht dient dann auch als Diskussionsgrundlage für den Steuerkreis oder für Gespräche auf Führungsebene.

Hinweise zur praktischen Durchführung:

Selbstverständlich möchte man auch mit Hilfe von Analyseworkshops ehrliche und möglichst der Realität entsprechende Belastungen ermitteln. Gerade in Gruppenworkshops unter Mitarbeitern können subjektive Empfindungen und Emotionen die Diskussion bestimmen. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass eher zurückhaltend über psychische Belastungen gesprochen wird, da jeder Einzelne womöglich Bedenken hat, über seine persönlichen „Belastungen und Probleme“ offen und vor anderen zu sprechen. Es empfiehlt sich daher, die Analyseworkshops durch externe Dienstleister moderieren zu lassen (gerne unterstütze ich Sie – siehe letzten Absatz). Eine externe Moderation kann neutral und objektiv auftreten, die Diskussion lenken und Ergebnisse ohne Vorbehalte und eigene Interessen dokumentieren und berichten.

Kombinationen aus unterschiedlichen Verfahren können einen tiefen und gründlichen Einblick in die psychischen Belastungen vermitteln.

Die drei beschriebenen Verfahren sind nicht unabhängig voneinander und als ein Entweder-oder zu betrachten. Kombinationen aus unterschiedlichen Verfahren können einen tiefen und gründlichen Einblick in die psychischen Belastungen vermitteln. So kann beispielsweise eine schriftliche Befragung einen ersten quantitativen Überblick über unterschiedliche Belastungen in verschiedenen Tätigkeitsbereichen gewährleisten. Anschließend können Analyseworkshops eingesetzt werden, um Hintergrundinformationen und Verbesserungsvorschläge aus den Reihen der Mitarbeiter zu erhalten, um so effektive und akzeptierte Maßnahmen zur Verminderung der Belastungen zu entwickeln.

Hinweise zur unterstützung

Das Thema der Gefährsungsbeurteilung psychischer Belastungsfaktoren ist auf verschiedenen Ebenen komplex: Eine sorgfältige Planung ist unumgänglich, die Methoden vielfältig und kombinierbar, die Moderation und Durchführung wird besser durch neutrale, objektive Personen übernommen, die Auswertung erfordert Statistikkenntnisse und die Kommunikation erreicht am besten alle Mitarbeiter des Unternehmens. Gerne berate und unterstütze ich Sie bei der Planung, Durchführung, Moderation, Auswertung und Kommunikation. Informieren Sie sich auf meiner Webseite (www.walter-bibug.de) oder kontaktieren Sie mich gerne direkt (walter@walter-bibug.de).

Über den Autor

Prof. Dr. Nora Walter

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