Fernstudium: Sind Präsenzunis bald Geschichte?

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Thema „Online-Lernen“

Ein Professor einer Präsenzuniversität stellte neulich die These auf, dass an unseren Universitäten in zehn, spätestens zwanzig Jahren nur noch online, virtuell und interaktiv gelehrt werden würde. Schon heute kleben viele Studierende sprichwörtlich hinter Ihren Laptops oder Smartphones – auch in den Vorlesungen. Aber zukünftig würden Algorithmen für die richtige Studienfachwahl sorgen und Automaten die Betreuung der Studierendenschaft übernehmen. Studierende könnten dann effektiv überall lernen: im Café und am Strand. Hörsäle wären dann überflüssig. Und der Professor hätte endlich genug Zeit für seine Forschung. Seinen Vortrag hat er bereits von seinem Ersatz eröffnen lassen: einem über die Leinwand hüpfenden und akrobatische Übungen machenden Avatar, den er innerhalb von 5 Minuten zusammengeklickt hatte.

Liegt der Professor mit seiner Annahme richtig? Wird es dank Digitalisierung bald keine Präsenzunis mehr geben? Wie wird sich die Lehre in Zukunft verändern?

Fernstudium – eine lange Erfolgsgeschichte

Die Zukunftsvision des Professors klingt erst mal vielversprechend: Er stellt alles Lernmaterial online, muss Vorlesungen nur einmal erstellen, lässt Klausuren automatisiert auswerten und hat so deutlich weniger Aufwand mit der Lehre. Die Studierenden bekommen anschauliches Lernmaterial, wo und zu welcher nachtschlafenden Stunde auch immer sie es brauchen und können mit einer objektiveren Benotung rechnen. Soweit ist es aber schon keine Zukunftsvision mehr. Fernlehre über Lernplattformen wie moodle, MOOCs (massive open online courses), Webinare und die automatisierte Auswertung von Multiple-Choice-Klausuren sind längst Alltag. Genauso wie Online Assessments bei der Studienfachwahl und Studienplatzsuche.

In Deutschland gibt es einige etablierte Universitäten, die ein akkreditiertes Fernstudium ermöglichen. Sei es für Berufstätige oder alleinerziehende Mütter – denn Präsenzunis sind oft nur auf Vollzeitstudierende eingestellt. Die Studierendenzahlen dort steigen seit Jahren. Und so bieten Fernuniversitäten mehr Menschen mehr Möglichkeiten. Die Fernuni in Hagen wirbt sogar damit, dort zu studieren wo es am schönsten ist – und das ist bestimmt nicht der überfüllte Hörsaal in der PräsenzUni.

Blended Learning

Blended Learning wird aufgrund der technischen Möglichkeiten in der Fernlehre bereits groß geschrieben: Eine breite Methodenmischung bei der Wissensvermittlung wie online-Vorlesungen, Chats, Foren und Wikis, traditionelle Pflichtlektüre und online Recherche, Planspiele, Seminare in virtuellen Klassenzimmern, klassische Hausarbeiten und Referate, hochzuladenden Übungsaufgaben für Einzelne und Gruppen. Diese Methodenvielfalt hat sich für die Wissensvermittlung bewährt.

Avatare

Der Wunsch eines Professors, sich die Studierenden vom Leib zu halten, ist recht alt … Neu ist, als Professor einer ehrwürdigen Universität den Studierenden nur noch als Avatar zu begegnen. Bisher werden die Professorinnen für Vorlesungen zumindest gefilmt – was manchmal tatsächlich schade ist, wo Avatare doch so viele Möglichkeiten bieten… beispielsweise könnte niemand die tiefen Augenringe und Bartstoppeln des Dozenten sehen, der gerade Papa geworden ist. Online-Vorlesungen haben für Studierende den Vorteil, dass man jederzeit die Pause-Taste drücken und die Professorin mitten im Vortrag stoppen kann. Dann lässt sich schnell ein Kaffee holen oder das Gesagte endlos wiederholen bis es endlich hängen bleibt. Ob Avatar oder echte Filmkopie macht da wohl keinen großen Unterschied.

Automaten

Die Kommunikation mit Studierenden und die Auswertung von Klausuren mit offenem Frageformat Automaten zu überlassen, ist für Professoren in der Fernlehre bestimmt keine unattraktive Idee. Denn die Studierendenzahlen an den Fernuniversitäten sind so drastisch gestiegen, dass die Betreuungsquoten oft eine echte Zumutung sind. Die Bewertung von Abschlussarbeiten ist noch Handarbeit und raubt so manchem Forscher die kostbare Zeit. Aber einige Professorinnen und Professoren haben auch Spaß an der Lehre und beklagen die kaum vorhandene Beziehung zu ihren Studierenden. Mehrere wechselten deshalb von einer Fern- an eine Präsenzuni.

Im Internet begegnen wir regelmäßig Automaten ohne es zu merken – beispielsweise bei der Suche nach einem Neuwagen. Automobilhersteller nutzen sie bereits, um Kundeninteressen abzufragen: Wird ernsthaftes Kaufinteresse festgestellt, leitet der Bot den Kunden unbemerkt an den menschlichen Kollegen weiter. Vielleicht hat sich der Automat in der Betreuung Studierender noch nicht durchgesetzt. Aber Studierende, die Ihren Betreuer für die Masterarbeit nur noch per Mail oder mit etwas Glück über ein Skypetelefonat kennen lernen, sind keine Ausnahme mehr. Manches Mal ist die Betreuung dennoch hervorragend – und manches mal nicht vorhanden. Insofern ist die Frage sehr interessant, ob eine Betreuung durch einen Algorithmus eine Verbesserung darstellt. Das hängt wohl sehr von allen Beteiligten ab.

Optimierung der Lehre

Aber ob Avatare und Automaten oder nicht: für eine praxisorientierte Optimierung der Lehre ist der Spielraum in vielen Studiengängen noch sehr groß, wenn man die Möglichkeiten der Digitalisierung in Betracht zieht. Mediziner und Piloten trainieren ihre Fähigkeiten bereits in Simulationen. Mit kostengünstigen VR Brillen sollte das bald auch in anderen Studiengängen möglich sein – wenn die Professoren mitziehen. Warum sollte sich eine angehende Lehrerin nicht in einem virtuellen Klassenraum mit virtuellen Schülern ausprobieren können, bevor ihr Referendariat beginnt? Aus der Welt der Videospiele und Lernsoftware für Sprachen ließe sich viel für interaktive, spielerische Wissensvermittlung übernehmen, die auch noch Spaß machen darf (Stichwort Gamification). Lernmaterial könnte also noch viel mehr an die Bedürfnisse der Studierenden angepasst werden. Gleiches gilt für Schulen und Weiterbildung allgemein.

Nun stellt sich aber auch die Frage, inwiefern ein Fernstudium das Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit befriedigen kann – schließlich ist der Mensch ein soziales Tier und so ein Studium ziemlich zeitintensiv. Es raubt einem die Freizeit mit Freunden und Bekannten.

Studierende vernetzen sich

Vernetzung ist ein zentrales Merkmal der Digitalisierung. Das zeigt sich auch im Verhalten der Studierenden, da sie ein gewisses Bedürfnis nach sozialer Zugehörigkeit haben. Und ob mit oder ohne Betreuung: heute zählt nichts mehr als sehr gute Noten. So liegt es nahe, wenn Studierende sich auch im Fernstudium untereinander austauschen: über die besten Strategien für gute Noten bei geringstem Aufwand, über mangelnde Motivation, über binge-learning für Auskotzklausuren in Bulimiestudiengängen und natürlich – über die Qualität der Lehre.

Tatsächlich stellt das Fernstudium in diesem Punkt eine große Herausforderung dar. An Präsenzunis bekommt man seine Kommilitoninnen wortwörtlich präsentiert – sie sitzen einfach im gleichen Seminarraum und müssen nur angesprochen werden. Im Fernstudium muss man sich seine Lernpartner mit mehr Aufwand selbst zusammensuchen und Kontakte pflegen, wenn man nicht als Einzelkämpfer durchs Studium gehen will. Die Älteren finden sich über facebook, die Jüngeren finden neuere Wege – beispielsweise um Gedächtnisprotokolle von Altklausuren auszutauschen

Ein großer Vorteil dabei ist, dass man nicht nur mit zwanzig Leuten in einem Seminar sitzt, mit denen man klarkommen muss. Die Auswahl an möglichen Lernpartnern ist viel größer und die Wahrscheinlichkeit einen passenden zu finden auch. Das Ganze lässt sich außerdem mit einem Training für die Arbeit in virtuellen Teams vergleichen – eine Fähigkeit, die von Personalern heute hochgeschätzt wird.

Fernstudierende vernetzen sich, obwohl das anstrengend ist. Weil das Studieren allein noch anstrengender ist. Weil Freunde und Familie die Anstrengungen des Fernstudiums meist nicht so ganz nachvollziehen können. Weil man zuhause besonders viel Selbstkontrolle braucht, um bei der Sache zu bleiben, egal wie gut das Studienmaterial ist. Weil der Austausch über Lerninhalte für das Verstehen wichtig ist. Es bilden sich zwangsläufig virtuelle Statistik-Selbsthilfegruppen unter angehenden Psychologen. Es wird emotionale Unterstützung für die Hausarbeit per whatsapp geleistet. Es finden sogar Stammtische in echten Kneipen mit echten Menschen statt, obwohl sie sich zuerst über moodle kennengelernt haben.

Auch in zehn oder zwanzig Jahren wird nicht jeder allein mit dem Rechner am Strand sitzen oder mit VR-Brille eine virtuelle Lernumgebung erkunden. Avatare, Automaten und anderes können interessante Neuerungen im Studium sein, wenn sie sinnvoll eingesetzt werden und das Denken und Entscheiden nicht nur Algorithmen überlassen wird. Es wird auch in Zukunft nicht alles virtuell sein.

Ein kleines Fazit für Personalentwickler

Klar ist, wer sich selbst erfolgreich durch ein Fernstudium manövrierte, hat seine Fähigkeit bewiesen, Ziele nicht nur zu setzen, sondern auch zu erreichen – und den attraktiven Ablenkungen am PC und Tablet zu widerstehen. Auch wenn dafür vielleicht eine App zum Einsatz kam, die den Zugriff auf Spiele und amazon zeitlich geblockt hat. Aber der intelligente Einsatz von Software ist auch eine wertvolle Kompetenz. Wer ein Fernstudium mit guten Noten abgeschlossen hat, kann außerdem in der Regel gut in virtuellen Teams arbeiten. Denn allein ist das nur schwer machbar.

Über den Autor

Ina Echterhof

M.Sc. Psychologin

www.beratung-echterhof.de
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Telefon: 0241/ 56 00 49 51

Von Ina Echterhof

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