In den vorherigen Artikeln wurde bereits beschrieben, welches die Prozessschritte bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung sind, um welche Belastungsfaktoren es geht und welche Verfahren für die Durchführung zur Verfügung stehen. Im folgenden Beitrag soll daher auf konkrete Beispiele von Unternehmen eingegangen und deren Erfolg und auch Misserfolg bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung thematisiert werden.
Unternehmen A
In einem Wohnungsbauunternehmen mit 230 Mitarbeitenden an verschiedenen Standorten in Deutschland wurde als Screening-Verfahren die Prüfliste Psychische Belastung der Unfallversicherung Bund und Bahn eingesetzt. Für dieses Verfahren haben sich die Beteiligten, bestehend aus Mitgliedern von HR, Betriebsrat und Fachkraft für Arbeitssicherheit entschieden. Verantwortlich ist der Arbeitgeber für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung unter Einbezug der Betriebsärzte und der Fachkraft für Arbeitssicherheit. Der Arbeitgeber kann die Aufgabe delegieren und/oder externe Personen mit der Durchführung beauftragen. In dem vorliegenden Fall fanden im Vorfeld Gespräche mit der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (VBG) statt und es fiel die Entscheidung, mich als externe Psychologin mit der Durchführung zu beauftragen.
Da zu dem Zeitpunkt der Befragung nicht alle Mitarbeitende einen PC-Zugang hatten, wurde der Fragebogen mit Begleitanschreiben in Papierform mit der Gehaltsabrechnung an alle Mitarbeiter gesandt. Zur Wahrung der Anonymität erfolgte der Rücklauf in einem frankierten Rückumschlag direkt an mich. Die Mitarbeitenden hatten drei Wochen Zeit für die Beantwortung des Fragebogens. Die Rücklaufquote betrug 62% über alle Tätigkeiten/Bereiche hinweg. Zum Vergleich: in einem anderen Unternehmen, welches sich ebenfalls für die Prüfliste Psychische Belastung entschieden hat, betrug die Rücklaufquote nur 35 %. Hier wünschten die Verantwortlichen keine Verteilung über die Gehaltsabrechnung, hier wurden die Mitarbeitenden per Mail informiert und sie konnten sich den Fragebogen beim Betriebsrat abholen. Man sieht also, dass die Art der Verteilung einen großen Einfluss auf die Rücklaufquote haben kann. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung werden künftig paper pencil Befragungen sicherlich abnehmen, wobei dann bei der Auswahl des Verfahrens verstärkt auf die Einhaltung von Datenschutz und -sicherheit zu achten ist.
Zurück zum Wohnungsbauunternehmen. Bei der Prüfliste Psychische Belastung wird im Vorfeld ein Schwellenwert (in der Regel 50%) festgelegt. Das bedeutet, wenn mehr als 50 % einer Untersuchungsgruppe (Tätigkeitsgruppe/Bereich) ein Item mit „eher nein“ ankreuzen, wird dieses Thema in vertiefenden Workshops genauer analysiert. Insgesamt ergab die Auswertung bei den folgenden Aussagen einen Handlungsbedarf:
Die Ergebnisse der Mitarbeiterbefragung wurden dem oben genannten Kreis im Rahmen einer Arbeitsschutz-Ausschusssitzung (ASA-Sitzung) präsentiert. Daraufhin wurden die Mitarbeitenden über die Ergebnisse informiert und zu vertiefenden Workshops für die jeweiligen Tätigkeiten/Bereiche eingeladen. Ebenso wie die Teilnahme an der Befragung freiwillig ist, ist auch die Teilnahme an vertiefenden Workshops freiwillig. Bei vorgelagerten Befragungen besteht das Risiko, dass es sich bei den Personen, die am Workshop teilnehmen unter Umständen nicht um die Personen handelt, die bei der Befragung eine potentielle Gefährdung identifiziert haben. Aber meine Erfahrung zeigt, dass das bei den Workshops nicht zu einem Problem führt, wenn die Teilnehmenden freiwillig dabei sind.
In den Workshops wurden die Teilnehmenden zunächst aufgefordert alles auf Metaplankärtchen zu schreiben, was positiv ist – im Sinne von Ressourcen. Daraufhin wurden die einzelnen Themen wie zum Beispiel Zeit-/Termindruck analysiert (wann und warum tritt das Problem auf, wer ist beteiligt usw.) und Lösungsvorschläge erarbeitet. Im Falle des Zeit- und Termindrucks stellte sich heraus, dass unter anderem die zunehmende E-Mail-Flut für entstehenden Zeitdruck verantwortlich ist, dass viele Mails überflüssigerweise in Kopie erhalten werden, für deren Inhalte man nicht zuständig ist. Eine schnelle Lösung schien hier nicht in Sicht zu sein, so dass man sich als Lösungsvorschlag darauf verständigt hat, die E-Mail-Ethik zu prüfen und zu optimieren. So wurde jedes Thema bearbeitet und auf einem Ampelsystem (rot – gelb – grün) beurteilt, inwieweit es die psychische Gesundheit gefährdet. Bei der Bewertung geht es nicht um Einzelmeinungen, der Konsens entscheidet. Für die Bearbeitung wurden pro Thema ca. 90 Minuten veranschlagt.
Die Ergebnisse wurden wiederum im Rahmen einer ASA-Sitzung vorgestellt. Daraufhin wurde ein kleinerer Kreis mit meiner Beteiligung gebildet, der sich mit der Ableitung von Maßnahmen beschäftigt hat. Viele Themen waren bereits bekannt und in Bearbeitung. Im Falle der E-Mail-Flut war bereits eine Restrukturierung der Abteilungspostfächer in Arbeit und die Einführung eines Reportingsystems statt E-Mails in der Planung. Wiederum wurden die Mitarbeitenden über die umzusetzenden Maßnahmen informiert.
Alles in allem gab es keine unüberwindliche Hürden, was sicherlich auch dem geschuldet ist, dass die Beteiligten sehr offen und konstruktiv mit den Themen umgegangen sind und die Probleme und Lösungsvorschläge ihrer Mitarbeitenden ernst genommen haben. Vorbildlich war ebenfalls, dass ich immer einbezogen und informiert wurde. Die Wirksamkeitskontrolle ist für Anfang nächsten Jahres geplant.
Unternehmen B
Im zweiten Beispiel handelt es sich um ein dem öffentlichen Dienst nahen Unternehmen mit ca. 700 Mitarbeitenden. Auch diese sind auf verschiedene Standorte in Deutschland verteilt. Hier wurde ich erst im laufenden Prozess hinzugezogen. Die Aufteilung der Tätigkeiten/Bereiche war bereits erfolgt und auch die Entscheidung getroffen, dass moderierte Workshops zur Ermittlung und Bewertung von psychischer Belastung am Arbeitsplatz durchgeführt werden sollen. Grund für diese Entscheidung war, dass schon viele Mitarbeiterbefragungen stattgefunden hatten auf die hin nichts passiert ist. Die letzte Befragung hatte eine Beteiligung von 13%.
Wir planten zwei halbtägige Workshops für die jeweiligen Tätigkeiten/Bereiche, um die Belastung gemäß den Belastungsfaktoren zu identifizieren und Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Die Workshops waren gut besucht, die Teilnehmenden kreativ und offen. Immer schwang jedoch der Tenor mit, tolle Veranstaltung aber es ändert sich ja sowieso nichts. Zunächst habe ich mich nicht davon beirren lassen, auch nicht als die letzten zwei Workshops wegen mangelnder Teilnehmerzahl abgesagt wurden (Teamleiter und Abteilungsleiter). Bei der Präsentation der Ergebnisse vor der Geschäfts- und Bereichsleitung habe ich dann verstanden, was die Workshop-Teilnehmenden meinten. Jeder Lösungsvorschlag aus den Workshops wurde abgetan und niedergemacht. Streng hierarchisch organisiertes Unternehmen, das lediglich seiner gesetzlichen Pflicht hinsichtlich der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nachkommen wollte. Man kann er schwer erraten, aber das Projekt ist eingeschlafen. Schade um das Engagement der Mitarbeitenden!
Fazit
Mein persönliches Fazit aus den beschriebenen Beispielen lautet: Wer bei der Durchführung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung lediglich die Erfüllung einer gesetzlichen Pflicht sieht, wird damit scheitern. Wer allerdings die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung als Instrument sieht, mit dem ein Unternehmen sich auf vielen Ebenen entwickeln und verbessern kann, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Gute Arbeitsbedingungen für die Mitarbeitenden, die sich nachweislich auf die Motivation, die Arbeitszufriedenheit und die Leistungsfähigkeit auswirken, was sich im Umkehrschluss positiv auf den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens auswirkt.
Auch im Hinblick auf die Digitalisierung sehe ich in der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ein wichtiges Analysewerkzeug über das festgestellt werden kann, ob sich durch Digitalisierung psychische Belastung erhöht oder vielleicht auch verringert. Ich habe die Hypothese, beides wird der Fall sein. Dazu sollte dann auch der fünfte Merkmalsbereich aus der GDA-Leitlinie „Neue Arbeitsformen“ mit Faktoren wie beispielsweise Flexibilisierung der Arbeit, Telearbeit, virtuelle Führung detaillierter betrachtet werden.
Vielen Dank, dass Sie den Beitrag zu Ende gelesen haben. Bei Fragen sprechen Sie uns gerne über unser Kontaktformular an.
Informationen über die Autorin Andrea Heine.