New-Talent-Management

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Ein agiler Ansatz in der Gewinnung und Förderung von Talenten sowie der Nachfolgeplanung

Kurze Klärungen Vorweg

Der Begriff „Talent“ ist umstritten, sowohl durch seine Unschärfe als auch durch das damit verbundene Labeling. Wir nutzen ihn dennoch, da er in vielen Organisationen fest verankert ist.

Wir sprechen in diesem Artikel über Talent-„Management“ und nicht nur über Talent-Programme, da es im New-Talent-Management kein übliches Programm gibt und der Entwicklungsweg co-kreativ und agil „gemanagt“ wird.

Jürgen Weiß, PE-SOLUTION
© Jürgen Weiß, PE-SOLUTION

Warum braucht es ein „New-Talent-Management“?

In vielen Organisationen enthält das klassische Talent-Management die folgenden Elemente:

  • Hierarchischer Benennungsprozess (die Führungskraft entscheidet, wer Talent ist; oft gekoppelt mit Talentkonferenzen)
  • Selektion zu Beginn (entweder man ist ‚drin‘ im Talentpool oder außen vor)
  • Fest vordefinierter Ablauf (z.B. Seminare, Coaching, Projekt)

Diese Elemente entsprechen einem Grundverständnis von Autorität in Organisationen, das nicht mehr zeitgemäß wirkt. Es ist sogar kontraproduktiv für das eigentliche Ziel: die Ausbildung von Führungskräften, die unter aktuellen, oft unsicheren und wechselhaften Bedingungen einsatzfähig sein sollen (Stichwort: VUCA-Welt).

Die hierarchische Benennung setzt Personen unter Druck: Was ist, wenn das vermeintliche Talent ablehnt? Dafür gibt es häufig gute Gründe, wie z.B. Veränderungen in der Lebenssituation, die eine Mehrarbeit durch Teilnahme an einem Talentpool schwierig macht. Zudem wird über die Person entschieden – zugleich aber gewünscht, dass zukünftige Führungskräfte selber zu Entscheidern werden.

Ebenfalls nicht hilfreich ist eine frühe Selektion, oftmals unterstützt durch psychometrische Verfahren. Diese können aufschlussreich sein, jedoch fokussiert dadurch jede:r auf das Bestehen. Es unterteilt dabei in Gewinnende und Verlierende, was bei letzteren zu einer Demotivation führen kann. Zudem wird wieder über die Person entschieden (von Expert:innen des Unternehmens), während sie selber keine vertiefte Lernerfahrung durchläuft, um herauszufinden, ob sie Talent sein will und was ein Talent ausmacht.

Fest definierte Abläufe entbinden Teilnehmende wiederum der eigenen Entscheidung. Je weniger Entscheidungen vom Talent getroffen werden, desto weniger wird echte Führung trainiert.

Dies kann man in ein anschauliches Bild übersetzen: Klassische Talent-Programme sind wie ein Buffet, bei dem jemand am Eingang entscheidet, ob jemand als gut:e Köch:ingeeignet ist, dann jemanden auf den Platz setzt und der angehende Koch dadurch lernt, dass er eine vorgefertigte Mahlzeit isst. Ich kenne Personal(entwicklungs)abteilungen, die sich wundern, dass die Teilnehmenden an den Talent-Programmen immer anspruchsvoller und weniger dankbar werden. Kein Wunder: Durch diese Herangehensweise haben sie keine Köche ausgebildet, sondern Restaurantkritiker.

Es gibt noch einen weiteren Grund für ein New-Talent-Management: Positionen werden in den meisten Organisationen zu „Moving Targets“. Das bedeutet, dass sich die Positionen und Rollen derart schnell wandeln, dass fraglich ist, ob ein monatelanges Programm die Zukunft abbildet, auf die eine Person im Anschluss trifft. Beispielsweise wird ein:e Leiter:in Buchhaltung in fünf Jahren auf eine andere Realität mit anderen Herausforderungen treffen (wenn die Position nicht sogar nach außen verlagert wird). Diese Herausforderungen sind nicht vollständig vorhersehbar – wie uns allen die Corona-Zeit gezeigt hat.

Das bedeutet: von einem statischen Profil auszugehen, wie Führung aktuell oder in ein paar Jahren aussieht, kann den Talenten im Pool ein falsches Bild vermitteln. Diese Herangehensweise wäre nicht agil.

© J. Weiß, Grafik New-Talent-Management

Wie kann ein New-Talent-Management aussehen und welche Vorteile hätte es?

Das Grundprinzip der Co-Kreation durchzieht sämtliche Phasen des New-Talent-Management. Um im vorherigen Bild zu bleiben: Es ist der Schlüssel zur Küche und zieht die zukünftigen Köche in die Verantwortung. Co-Kreation meint nicht, dass sie sich selber überlassen werden, sondern auf Augenhöhe mit Expert:innen etwas entwickeln, das ihre aktuellen Bedürfnisse abbildet. Und diese Bedürfnisse müssen oft erst erforscht werden.

Phase 1: Vortasten ermöglichen

Im New Talent Management wird auf das Ritual des Nominierungsprozesses verzichtet. Mitarbeitende gehen selbst auf die Suche, ob sie Talente in ihrer Organisation sind und ob sie ein Talent sein wollen. Methodisch lässt sich dies über eine Phase des „Vortastens“ abbilden. In ihr wird allen Mitarbeitenden erlaubt, Experimente zu wagen und Ressourcen (von geringem Umfang) zu nutzen.

Praktisch sieht das so aus: Mitarbeitende entscheiden sich, innerhalb eines festgelegten Zeitraums zusätzliche Verantwortung innerhalb ihrer aktuellen Tätigkeit zu übernehmen. Dies erfolgt meist in Form eines kleinen Projekts, das sowohl die Strategie des Unternehmens stärkt als auch den bisherigen Einflussbereich der Mitarbeitenden erweitert. Das vorrangige Ziel ist es, für sich festzustellen, ob man ein Talent ist oder nicht. Zudem kann jede:r für sich klären, ob der kommende Lernweg zu ihm/ihr passt.

Zur Unterstützung können parallel Reflexionsgruppen angeboten werden. In diesen tauschen die Teilnehmenden an der Phase „Vortasten“ ihre Erfahrungen aus und können den notwendigen Sozialvergleich durchführen: Was leisten andere Talente im Verhältnis zu mir?

Am Ende eines festgelegten Zeitraums erfolgt eine „Würdigung“ (im Sinne einer agilen Retrospektive) durch ein Gremium. Die Mitarbeiter stellen vor, was sie in diesem ersten Prozessschritt gelernt haben. Das Gremium dient der Unterstützung dieses sozial kontrollierten Prozesses. Es trifft nicht die Entscheidung, ob jemand ein Talent ist oder nicht. Seine Hauptaufgabe ist es, zuzuhören, passende Fragen zu stellen und die Selbstreflexion der Mitarbeitenden zu stärken.

Phase 2: Sich in Führung wirksam erproben

Erst nach dieser sozial kontrollierten Würdigung und Reflexion besteht die Möglichkeit für Mitarbeitende, in die nächste Phase zu wechseln. Während der Fokus in der ersten Phase auf dem bisherigen Einflussbereich lag, geht der Blick nun in Richtung zukünftiger Herausforderungen mit erweiterten Verantwortungsbereichen. Hier empfiehlt sich ein simulationsbasiertes Verfahren mit Feedback, wie es zum Beispiel in Development-Centern üblich ist, jedoch ohne Positionsentscheidung.

Ziel ist eine systematische Rückmeldung über Stärken und Lernfelder unter zukünftigen Bedingungen. Zudem können Mitarbeitende in einer geschützten Lernumgebung herausfinden, ob sie sich in die neue Verantwortung begeben wollen. Das unterstützende Gremium (etwa Beobachter im Development-Center) steht dabei beratend (und nicht entscheidend) zur Seite. In dieser Phase besteht erste Sichtbarkeit nach außen und Teilnehmende werden mit dem sozialen Druck konfrontiert, bewertet zu werden.

Zwischenfazit der ersten beiden Phasen

Die Teilnehmenden an diesen beiden Phasen können ohne Verlust an Reputation den Talentmanagementprozess beenden (es gibt keine „Verlierer“). Sie haben bis hierhin ein Experiment im Sinne der Unternehmensstrategie gewagt, sich reflektiert und an einer zukunftsorientierten Diagnose teilgenommen. Eine Demotivation durch eine Nicht-Benennung durch Vorgesetzte unterbleibt. Mehrere Personen standen mit Rat und Reflexion zur Seite. Der Investitionsaufwand für die Organisation ist geringer als bei einer unpassenden Vorgesetzten-Nominierung von Teilnehmenden für ein umfassendes Talent-Programm.

Phase 3: Agiles Lernen durch echte Verantwortungsübernahme

Ab der dritten Phase übernehmen die Talente echte Verantwortung. Neben der Umsetzung von identifizierten Entwicklungsmaßnahmen aus Phase 2, liegt der Fokus auf Erfahrungslernen und Vernetzung mit anderen. Dazu wird den Talenten echte Verantwortung übertragen. Dies kann in vielerlei Form geschehen: zum Beispiel Projektführung, Führung auf Zeit, temporäre Schlüsselfunktionen auf der Basis der Expertise (z.B. um innerbetriebliche Standards zu schaffen), Stellvertretungen oder Rotationen. Das geht oft einfacher als angenommen.

Wir haben kritisiert, dass die klassischen Talent-Programme nicht berücksichtigen, dass Positionen und Rollen zu „Moving Targets“ werden. Mit dieser Phase im New-Talent-Management steht ein Situationsmodell statt eines Kompetenzmodells im Mittelpunkt. Die Talente durchlaufen gezielt unterschiedliche Situationen, die auch in jeglicher Zukunft bedeutungsvoll bleiben, z.B. Aufbau- oder Krisensituationen in Abteilungen oder Projekten. Ziel ist es, dass die Talente über einen langen Zeitraum möglichst unterschiedliche Situationen kennenlernen, darin Verantwortung übernehmen und ihr Verhalten reflektieren und auswerten. Begleitende Maßnahmen (z.B. Reflexionsgruppen, Mentoring, Coaching) stützen dabei die Talente.

Nach jeder Situation erfolgt wieder eine „Würdigung“. Hierbei können die „Geführten“ und andere Stakeholder einbezogen werden. Anschließend erfolgt eine co-kreative Entscheidung für die nächste Situation.

Fazit:

Im New-Talent-Management kommen die Talente als Köch:innen direkt in die der Küche. Statt ein Talent-Programm zu konsumieren, gestalten sie ihre Entwicklung eigenverantwortlich.

Durch die Würdigungen wird die Reflexion angeregt. Sie werden zu Spezialisten für ihre Bedürfnisse und die Bewältigung unterschiedlicher Situationen – unabhängig von Positionen. Zudem wird weiterhin die Vernetzung zwischen Talenten und anderen unterstützt.

Dabei kommt ein neues Verständnis von Autorität zum Tragen: Nicht andere entscheiden wiederkehrend über das Talent, sondern sie beraten in co-kreativen Settings auf Augenhöhe die Teilnehmenden. Dadurch wird ein moderneres Führungsselbstverständnis gestärkt, das nicht auf Status und Positionsmacht setzt, sondern auf Reflexion, Selbstwirksamkeit und persönliche Einflussnahme.

Im New-Talent-Management verbringen die angehenden Talente zudem mehr Zeit in der Wertschöpfung als in „Kaderschmieden“. Auch dies entspricht neueren, agileren Organisationsformen, wie z.B. in der Soziokratie.

Dipl.-Psych. Jürgen Weiß PE-Solution, unter der Mitwirkung von Dr. Philipp Lichtenthaler PE-Solution

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