Die Mail der Interessentin klang entschlossen: „Ich muss hier weg!“ Die Reorganisation, die neue Leitung – ihre Arbeitsbedingungen haben sich so verschlechtert, dass sie nur noch Frust und Ärger verspüre und Angst um gesundheitliche Folgen habe. Doch der Fall entwickelte sich überraschend anders.
Motivationsprozesse spielen im Coaching immer irgendeine Rolle, aber in diesem Fall waren sie der rote Faden. Um die Privatsphäre meiner Kundin zu schützen, habe ich den Fall verfremdet. Die Grundzüge werden so vielleicht noch deutlicher, sodass Sie miterleben können, welche Stellhebel es gibt, um mit der eigenen Motivationslage bewusster umzugehen.
Eigentlich wollte ich gleich absagen, weil ich ein klassisches Bewerbungs-Coaching nicht anbiete. Da die Interessentin jedoch ihre Telefonnummer und ein für mich mögliches Zeitfenster angegeben hatte, rief ich sie an. Vielleicht konnte ich ihr eine kompetente Kollegin empfehlen, wenn sie mir ihr Anliegen schilderte.
Was ist das Anliegen?
Frau K. war seit etwa zehn Jahren als Referentin in einem Verband tätig. In dieser Stelle war sie hoch zufrieden gewesen. Der alte Geschäftsführer, der sie auch eingestellt und eingearbeitet hatte, ließ ihr freie Hand. Sie konnte ihre Ideen verwirklichen und ihre Zeit frei einteilen, einschließlich der Dienstreisen. Seit einem guten Jahr war das alles vorbei. Neue Orga, neuer Chef, Ziele, Vorschriften, plötzliches Abkommandieren und Gängelei… Man fragte sie nicht, man bezog sie nicht mehr ein. Sie hatte sich schon gefragt, ob sie weggemobbt werden sollte. Dabei hatte sie doch so gute Arbeit geleistet, viele Projekte und Innovationen mit Erfolg bewältigt. Es war ein Jammer!
Mir fiel gleich auf, wie Frau K. gedanklich überwiegend in der Vergangenheit weilte. Ideen für eine neue Stelle brachte sie nicht ein, und auf meine direkte Nachfrage sagte sie so etwas wie: „Die soll so sein wie früher.“ Hm. Welche Ausstrahlung hätte sie denn damit in einem Bewerbungsgespräch? Mir kam es so vor, als wäre sie für eine Bewerbungsphase noch gar nicht motiviert.
Ich konfrontierte sie mit meiner Wahrnehmung. Nach kurzem Schweigen stimmte sie mir zu. „Es ist wie ein inneres Patt: Ich bin weder motiviert zu bleiben, noch habe ich die Energie, mich zu verändern.“ Meinen Vorschlag, mit einem Coaching abzuwarten, lehnte sie aber ab. Sie habe in der Zeit vor der besagten Stelle schon einmal ein Coaching wahrgenommen, was ihr sehr geholfen habe. Da sie gut verdiene, sei das für sie eine gut angelegte Investition. Sie hätte einen guten Draht zu mir verspürt und wolle, dass ich ihr helfe, sich zu sortieren.
Treibstoff aus dem Unbewussten
Motivation braucht Treibstoff aus dem Unbewussten. Diese Energie entspringt unseren Motiven. Die gut zu kennen ist ein klarer Vorteil! Doch so einfach zeigen die sich nicht: Motive, die gut befriedigt sind, spüren wir nicht mehr. Beispielsweise fällt uns ein starkes Bedürfnis nach sozialem Anschluss und Harmonie nicht auf, wenn wir normalerweise in Familie, Kollegen- und Freundeskreis gut eingebunden sind. Es macht sich erst bemerkbar, wenn wir z. B. durch einen Auslandsaufenthalt über Wochen auf uns allein gestellt sind.
„Was motiviert Sie bei der Arbeit?“, diese Frage ist allerdings zu allgemein. Trennschärfer sind diese Varianten:
- Was muss gegeben sein, damit Sie voller Energie arbeiten?
- Auf was können Sie bei der Arbeit gar nicht verzichten?
- Wie kann man Sie am heftigsten frustrieren?
Die eigenen Motive kennen
So schlug ich Frau K. in der ersten Coaching-Sitzung vor, sie könne die frustrierende Berufssituation nutzen, um ihre Motive zu untersuchen. Dabei gehe ich eher frei vor, klebe nicht an einzelnen psychologischen Modellen, sondern versuche die Begriffe zu nutzen, die meine Klienten von sich aus einbringen. Frau K. erarbeitete sich diese Hauptmotive:
1. Leistungsmotivation
Am wichtigsten war ihr, gute Ergebnisse zu erzielen. Dazu musste sie die Aufgaben in hoher Qualität erledigen und bis zum Ende durchziehen können. Auch brauchte sie Kenntnis darüber, was am Ende herausgekommen war.
2. Selbstbestimmung / Autonomie
Fast genauso wichtig war es ihr, eigenständig arbeiten zu können. Eine enge Führung empfand sie als Kränkung. Am meisten motivierten sie Projekte, in denen unter ihrer Leitung Neuland betreten wurde, das sie frei gestalten konnten.
3. Anerkennung
Etwas überraschend kam heraus, dass sie zusätzlich zum Erfolg in der Sache eine persönliche Anerkennung brauchte. Ein Dank im Führungskreis, eine Erwähnung in einer Broschüre – das hatte der frühere Geschäftsführer gut bedient. Doch seit dessen Weggang herrschte die Eiszeit.
Am Ende des ersten Termins sagte Frau K.: „Nun weiß ich immer noch nicht, was ich will.“ „Aber so unzufrieden sehen Sie nicht aus“, erwiderte ich. „Ich weiß, was ich brauche“, antwortete sie, „und das ist ein gutes Fundament.“
Die Motive als Richtschnur
In der zweiten Coaching-Sitzung ging es darum zu prüfen, wie sich die erarbeiteten Hauptmotive in verschiedenen Stellen verwirklichen ließen. Frau K. hatte ein relevantes Stellenangebot mitgebracht, eine Stabsstelle in einem Großunternehmen. Als Referenz wollte sie ihre derzeitige Position nehmen.
Im Coaching-Gespräch wurde ihr klar, dass alle Annahmen für eine neue Stelle mit ziemlicher Unsicherheit behaftet waren, weil sie ja frühestens in der Probezeit Erfahrungen machen konnte. In den Anzeigen versprechen die Firmen viel. Möglicherweise kam sie vom Regen in die Traufe! Ich machte ihr Mut, weil ich Frauen häufig als zu vorsichtig erlebe, was berufliche Wechsel angeht. Wir schauten uns die Motive im Einzelnen an.
Motiv Leistungsmotivation: In ihrer bisherigen Stelle beim Verband war sie an den Ergebnissen „näher dran“. Bei der Stabsstelle könnten die Ergebnisse empfehlenden Charakter haben, sodass sie erst von den Linienbereichen noch beschlossen werden mussten. Arbeiten für die runde Ablage? Das würde sie zutiefst demotivieren. Beide Jobs boten Potenzial für ihre Leistungsmotivation, aber bei der Stabsstelle war es unsicherer. Also 2:1 für den Verband .
Motiv Autonomie: Beim Verband war ihre Expertenstelle eigentlich nicht beschnitten worden, lediglich die Rahmenbedingungen und der Umgang mit ihr hatten sich verschlechtert. In einem Großunternehmen würde sie sich erst recht nach anderen richten müssen. Vielleicht würde sie noch nicht einmal persönlichen Kontakt zu denjenigen haben, die ihre Aufgaben bestimmten. Also 1:0 für den Verband.
Motiv Anerkennung: Das war mit dem jetzigen Geschäftsführer völlig eingebrochen, aber bei einer neuen Stelle konnte man auch nur Vermutungen äußern. Frau K. schätzte das 0:0 ein.
Der Schritt über den Rubikon
Blutleere Silvestervorsätze kennt jeder. Als Coach finde ich es gefährlich, Veränderungsvorhaben zu unterstützen, deren Scheitern absehbar sind. Das kostet nicht nur Zeit, sondern es verbraucht auch Hoffnung. So eine wertvolle Ressource!
Deshalb teste ich sorgfältig, ob ein Vorhaben des Klienten mit Energie aus dem Unbewussten gespeist ist, die auch über die Mühen der Ebene tragen kann. Erst mit einer solchen Energie kann man die Entschlossenheit aktivieren, die es für den Schritt über den „Rubikon“ braucht. So nennen Motivationspsychologen den Absprung von der auswählenden ersten Motivationsphase zu den folgenden Willens- oder Volitionsphasen, die eine Umsetzung der Motive beinhalten.
„Wollen Sie Ihrer alten Stelle noch eine Chance geben?“, fragte ich also. „Muss ich wohl, es steht ja nach meiner eigenen Einschätzung 3:1“. Energievoll ist anders, dachte ich. Also sagte ich ehrlich: „Ich glaube, das reicht nicht“. Frau K. war bestürzt. Wir beendeten die Sitzung in einer recht bedröppelten Stimmung. Frau K. wollte bis zum nächsten Termin weitere Stellenangebote heraussuchen.
Und sie hatte ihre Hausaufgaben erledigt: Sie legte einen Stapel Ausdrucke auf den Tisch, sah mir fest in die Augen und sagte: „Ich weiß nun, was ich will.“ Ich guckte auf die Blätter, aber sie zeigte mir keins. „Welche Stelle hat denn nun Potenzial?“, fragte ich neugierig. „Meine alte!“. Upps, da hatte sich etwas getan in der Zwischenzeit.
Während Frau K. mir erklärte, was sie im Vergleich zu den vielen anderen Alternativen erkannt hatte, achtete ich mehr auf ihre Körpersprache als auf ihre Worte. In ihren Bewegungen lag mehr Spannung, ihre Augen guckten fast kampflustig. Ein Lächeln war zwar noch nicht zu sehen, aber die Stimme, die hatte einen völlig anderen Klang: lauter, betonter, artikulierter als in der Vorwoche. „Ich habe lange mit meinem Mann darüber gesprochen“, sagte sie zum Schluss, „und da ist mir klargeworden: Ich habe gar nicht für meine Werte gekämpft. Doch das haben die verdient!“ Und da war dann ein Strahlen auf ihrem Gesicht.
Die Willensphasen
Wenn die Entschlossenheit erreicht wurde, ist man gut gerüstet, aber – mit der Sprache meines Computerspielhobbys – der Kampf steht noch bevor! Deshalb hört ein Coaching auch nicht hier auf, sondern es begleitet die nächsten Schritte: Zielplanung, Ausführungsintentionen und Krisenvorbeugung. Dazu hier der Einstieg in die Zielsetzung.
„Angenommen, Ihr Kämpfen für Ihre Werte ist erfolgreich gewesen: Was ist dann anders geworden?“ Es macht mir immer Mühe, die Klienten davon abzuhalten, gleich die Ärmel hochzukrempeln und sich in „Action“ zu stürzen. Doch die Kampfkraft will gut verteilt sein. Dazu ist es mehr als sinnvoll, zunächst konkrete Ziele zu bilden, damit die Aktionen gezielter (!) eingesetzt werden können.
Frau K. machte als erstes eine Art Brain Storming, was sie wie anders haben wollte. Danach gruppierte sie ihre Ideen danach, welche Personen bzw. Arbeitsstrukturen betroffen waren. Schließlich brachte sie diese Ziele in eine Rangreihe nach Wichtigkeit. Als Top 3 kam heraus:
- Formale Klärung ihres Handlungsspielraums mit Geschäftsführung und anderen Führungskräften, mit denen sie zusammenarbeitete
- Verabredung eines regelmäßigen Vier-Augen-Gesprächs (Jour fixe) mit dem Geschäftsführer, um Feedback zu erfragen und Unstimmigkeiten zu bereinigen
- Einfluss auf die neuen Strukturen wie Dokumentationen und Ziele nehmen
Da der Geschäftsführer als Rollenpartner sehr wichtig war, schlug ich Übungen mit Perspektivenwechsel vor, wie Aufstellungen und Rollentausch. Dabei gewann Frau K. überraschende Erkenntnisse. Sie war immer davon ausgegangen, dass der Geschäftsführer sie bewusst behinderte, zurückpfiff und frustrierte. Doch wenn sie sich in dessen Schuhe stellte, fühlte sie sich erschlagen von der Vielfalt widersprechender Anforderungen, die von innerhalb und außerhalb des Verbandes auf die Leitung einprasselten. Aus seiner Perspektive war eine Frau K. weit weg und wenig wichtig. Dass er sie demotivierte – hatte er das überhaupt bemerkt? Brauchte er nicht eher Unterstützung, z. B. gegen den mächtigen Verwaltungsrat?
Ja klar, eine Führungskraft wünschen wir uns doch alle als ideale Vater-Mutter-Figur: allwissend, Orientierung bietend, beschützend, verständnisvoll und wertschätzend. Und ich finde, es ist erlaubt, auch mal enttäuscht und traurig zu sein, wenn ein neuer Geschäftsführer nicht durchblickt, was er an Verwirrung und Demotivation so anrichtet. Doch wenn wir unser inneres Kind gewürdigt haben, können wir zurück in unser Erwachsenen-Ich schlüpfen und die Dinge selbst anschieben – in die Richtung, die wir wollen.
So machte es Frau K. Sie erarbeitete eine Argumentationslinie für den Geschäftsführer: Welchen Nutzen würde er haben, wenn er ihr wieder mehr Autonomie und Leistungserleben zukommen ließe? Dabei wurde sie zunehmend optimistisch: Es war eine klassische Win-Win-Situation.
Das Gespräch verlief erfolgreich. Das schwierigste war eigentlich gewesen, einen Termin zu bekommen. Danach war der Geschäftsführer aufgeschlossen. Frau K. achtete darauf, alle Vereinbarungen zu dokumentieren – nicht aus Misstrauen, sondern weil sie die Überlastung nachempfunden hatte und ihm die Einhaltung erleichtern wollte. Als wir das Coaching beendeten, hatte Frau K. fast wieder ihre alte Arbeitszufriedenheit erreicht. „Es ist mehr“, sagte sie zum Abschluss, „ich habe meine Motive besser kennengelernt. Und damit habe ich einen inneren Kompass, egal wie sich der Wind auch drehen wird.“