Wie man eine Veränderungsabsicht bei einem vorhandenen Konsumproblem anstößt – und was ihr zuwiderläuft
Konsumproblematiken zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass sie verheimlicht werden. Der häufig lang andauernde Entstehungsprozess von Abhängigkeiten wird begleitet durch Verharmlosungstendenzen, Schuldzuweisungen an andere, Ausreden, Verheimlichungen oder Lügen – sich selbst und anderen gegenüber. Dabei sind es nicht nur die Betroffenen selbst, die zu Vertuschungstaktiken greifen. Auch Angehörige, Arbeitskolleg*innen, Mitarbeiter*innen und Führungskräfte können sogenanntes Co-Verhalten zeigen. In diesem dritten Beitrag zum Thema Betriebliche Suchtprävention soll es um die Co-Abhängigkeit/ das Co-Verhalten im betrieblichen Kontext gehen und um die Frage, welche Bedingungen eine positive Veränderungsabsicht beim Betroffenen fördern (Links zu den beiden ersten Beiträgen: Betriebliche Suchtprävention 1: https://wirtschaftspsychologie-rhein-ruhr.de/2021/03/26/betriebliche-suchtpraevention/; Betriebliche Suchtprävention 2: https://wirtschaftspsychologie-rhein-ruhr.de/2021/04/26/betriebliche-suchtpraevention-2/).
Was ist Co-Abhängigkeit bzw. Co-Verhalten?
Der Begriff der Co-Abhängigkeit ist irreführend. Man könnte auf die Idee kommen, dass es sich dabei um Personen handelt, die sich vom Konsumproblem anstecken lassen, z.B. sich zum Mittrinken animieren lassen und daraufhin ein eigenes Konsumproblem entwickeln. Der Begriff ist negativ, denn er weist eindeutig darauf hin, dass der oder die Angehörige oder Mitarbeiter*in selbst abhängig ist und Hilfe braucht, obwohl er oder sie eigentlich in der Helfenden Position ist. Daher wurde der Begriff Co-Abhängigkeit durch den des Co-Verhaltens abgelöst.
So oder so: Co-Abhängigkeit bzw. Co-Verhalten bezeichnet sämtliche Verhaltensweisen von Angehörigen, Arbeitskolleg*innen, Mitarbeiter*innen usw., die verhindern, dass der oder die Betroffene die negativen Konsequenzen, die aus dem Konsumproblem entstehen, in vollem Umfang erleben kann und die damit die Einsicht in das Konsumproblem und den Motivationsweg zum Aufsuchen von Hilfe blockieren oder zumindest stark verzögern. Co-Verhalten ist dabei paradox: Es geschieht aus der besten Absicht, der suchtgefährdeten Person zu helfen, sie zu unterstützen und in schwierigen Zeiten beizustehen, sorgt jedoch für eine Stabilisierung des Konsumproblems.
Wir wollen uns diesen vermeintlichen Widerspruch an einem Beispiel anschauen: Ein Mitarbeiter aus dem Kundenservice erscheint wiederholt angetrunken auf der Arbeit, sodass er nicht in der Lage ist, mit dem Firmentransporter zu Kundenterminen zu fahren. Da die Firma grundsätzlich zwei Mitarbeiter zu Kundenterminen schickt, übernimmt ein Arbeitskollege die Rolle des Fahrers. Dies geschieht natürlich aus Sicherheitsgründen, aber auch, weil er seinen langjährigen Kollegen und Freund nicht in Schwierigkeiten bringen will. Vor Ort erledigt der betroffene Mitarbeiter seine Arbeit noch zufriedenstellend, kleinere Fehler werden durch den Kollegen ausgebügelt und schnell wieder vergessen. Mit der Zeit stellt es sich so ein, dass der Kollege grundsätzlich nicht nur alle Fahrten übernimmt, sondern auch vor Ort die Kundengespräche, Vertragsangelegenheiten und die schwierigen Reparaturarbeiten. Auch für die Berichterstattung und Dokumentation ist nun der Kollege verantwortlich. Weder den Kunden noch der Führungskraft fällt dadurch das Alkoholproblem des Mitarbeiters auf, das sich zunehmend verschärft. Nach einiger Zeit bemerkt der Kollege, dass der betroffene Mitarbeiter nicht nur regelmäßig angetrunken oder verkatert auf der Arbeit erscheint, sondern auch während der Kundeneinsätze Alkohol trinkt. Der Kollege beginnt, den betroffenen Mitarbeiter nicht mehr aus den Augen zu lassen und durchsucht Werkzeugkästen und sogar seinen Rucksack nach Alkohol. Immer mehr Fehler müssen ausgebügelt, immer mehr Arbeiten übernommen werden. Schließlich kommt der Kollege zu der Erkenntnis, dass er mit dem Betroffenen nicht mehr zusammen Kundentermine übernehmen will und bittet bei der Führungskraft um eine neue Teamzusammensetzung.
Folgende Erkenntnisse können aus dem Beispiel gezogen werden:
- Die Hilfe des Kollegen in Form der Übernahme von Aufgaben und Verantwortungen führen dazu, dass der betroffene Mitarbeiter keinen Anlass für eine Veränderung sieht. Ganz im Gegenteil: Sein Kollege sorgt dafür, dass er positive Konsequenzen aus dem Trinkproblem erfährt. Da das Problem nicht offen angesprochen wird, sondern zunächst verheimlicht, mitgetragen und sozusagen „umschifft“ wird, werden sämtliche Nachteile des Alkoholkonsums von ihm ferngehalten und auf den Kollegen übertragen. Dies blockiert die Problemeinsicht seitens des Betroffenen.
- Die „Hilfe“ des Kollegen hat letztlich ztur Folge, dass er den Betroffenen loswerden möchte – eine äußerst unangenehme Situation für alle Beteiligten.
- Co-Verhalten hat viele Gesichter und verändert sich über die Zeit. Dies ist eine Konsequenz aus der Enttäuschung und Frustration, die damit einhergeht, dass sämtliche Hilfe und Aufopferung zu keiner Besserung führt.
Co-Verhalten verläuft in Phasen
Genau wie die Entwicklung des eigentlichen Abhängigkeitsproblems, verläuft auch das Co-Verhalten in Phasen, die mitunter mehrere Jahre andauern können.
Zu Beginn herrscht in aller Regel die Einstellung von Seiten der Angehörigen und Arbeitskolleg*innen vor, dass es sich um eine schwierige Phase handelt, die bald überwunden sein wird. Das Problem wird zunächst verharmlost, übersehen und ignoriert. Alle bemühen sich, eine heile Welt aufrecht zu erhalten. Problematiken in Zusammenhang mit der Arbeitstätigkeit (z.B. Probleme der Arbeitssicherheit oder Fehler) werden vertuscht, Tätigkeiten von Kolleg*innen übernommen. Mit der fortschreitenden negativen Entwicklung des Konsumproblems, kommt nun das soziale und betriebliche Umfeld zu der Erkenntnis, dass andere Maßnahmen notwendig werden. Diese beziehen sich häufig auf Kontrollbemühungen. Die betroffene Person wird kontrolliert, ausgefragt, bevormundet oder unter „Personenschutz“ gestellt. Diese Verhaltensweisen führen zwangsläufig zu Konflikten mit der betroffenen Person, eine konsequente Einstellung bzw. konsequentes Verhalten bleibt jedoch weiterhin aus. Die letzte Phase wird durch den Wunsch beherrscht, die betroffene Person loszuwerden, da sämtliche Hilfen und Maßnahmen zu keinem Erfolg sondern zu deutlichen Mehrbelastungen für die Kolleg*innen geführt haben. Nicht eingehaltene Versprechen, enttäuschte Erwartungen und leere Drohungen beherrschen den Umgang miteinander. In der Tabelle unten sind die typischen Phasen, Einstellungen und Verhaltensweisen des Co-Verhaltens zusammengefasst.
Phase | Typische Einstellungen | Typische Verhaltensweisen | Reaktion seitens des Betroffenen |
Verleugnungsphase | „Es ist nur eine Phase“
„Das geht wieder vorüber“ „Jeder hat mal Stress“ |
Wegschauen
Verharmlosen Ignorieren Witze machen Gemeinsamer Konsum |
„Es ist alles ok“
„Die anderen haben Verständnis“ „Die anderen trinken ja auch“ |
Beschützer- und Helferphase | „Wir müssen ihm/ ihr doch helfen“
„Wenn er privat Probleme hat, dann soll er wenigstens auf der Arbeit eine gute Zeit haben“ „Wir sind füreinander da“ „Der Chef muss ja nichts mitkriegen“ |
Vertuschung
Übernahme von Verantwortung und Tätigkeiten Ausbügeln von Fehlern Kritische Reaktionen von anderen werden missachtet |
„Es ist alles in Ordnung“
„Andere können das ja auch mal für mich übernehmen“ „Es läuft ja alles ganz normal weiter“ |
Kontrollphase | „Wir müssen jetzt tätig werden“
„Ich nehme das jetzt selbst in die Hand“ „Von alleine kommt sie ja nicht auf die Idee, etwas zu ändern“ „Wir müssen eingreifen“ |
Der Betroffene wird durchsucht
Alkohol wird weggeschüttet Konsumauslösende Situationen werden vermieden Der Betroffene wird unter Personenschutz gestellt |
„Ich lass mir doch nichts vorschreiben“
„Das ist meine Angelegenheit“ „Die anderen reagieren über“ |
Anklagephase | „Wir müssen ihn/ sie loswerden“
„Er/ Sie muss an einen anderen Arbeitsplatz versetzt werden“ „Das ist in unserem Team nicht mehr tragbar“ |
(Leere) Drohungen schwerwiegender Konsequenzen
Vorwürfe Alle wissen es, aber keiner will etwas bemerkt haben Anschuldigungen |
„Das sind alles nur Drohungen, aber es passiert ja doch nichts“
„Jetzt sind alle gegen mich, die haben sich gegen mich verschworen“ „Ich habe immer meine Arbeit gemacht“ „Die haben mich doch zum Trinken animiert“ „In dieser Abteilung will ich sowieso nicht mehr arbeiten“ |
Was muss passieren, damit eine Einsicht und Änderung in Gang kommt?
Wie an der Reaktion des Betroffenen zu sehen ist, führen typische Co-Verhaltensweisen zunächst zum Ausblenden des Problems und schließlich zu Schuldzuweisungen an andere oder sogar zur Veränderung eigener Werte gegenüber der Arbeitsstelle, der Arbeitstätigkeit und den Arbeitskolleg*innen. Eine Einsicht in das eigene Problemverhalten und das Erkennen der Ursachen der sich entwickelnden negativen Strukturen finden nicht statt. Was muss also passieren, damit die betroffene Person eine Änderungsabsicht (eine sog. Selbstregulierte Änderungsmotivation) bildet?
- Zunächst muss irgendetwas die Einstellung „Alles ist in Ordnung“ stören. Mit anderen Worten: Negative Folgen und Konsequenzen des Konsums müssen für die betroffene Person sichtbar und spürbar sein.
- Zusätzlich muss die betroffene Person einen Zusammenhang zwischen den negativen Folgen und dem Konsumproblem herstellen können. So sorgt beispielsweise eine Versetzung in eine andere Abteilung unter dem Vorwand des Mitarbeitermangels in der neuen Abteilung für keine Änderungsmotivation.
- Konsequenzen, die aus dem Konsumproblem entstanden sind, müssen das Wertesystem der betroffenen Person verletzen, d.h. die betroffene Person muss zu der Erkenntnis gelangen, dass sie selbst gegen ihre eigenen Werte, wie z.B. Zuverlässigkeit, Teamgeist, Zusammenhalt, Pünktlichkeit oder Sorgfalt gehandelt hat.
- Die Verantwortung für die negativen Folgen und die Werteverletzung muss bei sich selbst und nicht bei anderen gesucht werden.
Es ist aber andersherum auch zu betonen, dass die Erkenntnis, schwerwiegende Fehler infolge des Konsums gemacht zu haben, zwar realistisch eingeschätzt werden muss, allerdings muss diese Erkenntnis auch ertragbar sein. Starke Schuldgefühle oder das Gefühl, das eigene sowie das Leben anderer dauerhaft ruiniert zu haben, führt eher zu sozialem Rückzug, Selbstvorwürfen, Verzweiflung und Depressivität – alles Auslöser für vermehrten Konsum oder sogar Suizidalität.
Fazit
Gerade zu Beginn eines sich entwickelnden Konsumproblems sorgen die typischen Co-Verhaltensweisen im sozialen und betrieblichen Kontext durch Verleugnung, Vertuschung, Übernahme von Verantwortung und Tätigkeiten für eine Stabilisierung bzw. Aufrechterhaltung des Konsumproblems. Co-Verhalten birgt die Gefahr schwerer negativer Konsequenzen für das betriebliche Umfeld – sowohl für die betroffene Person als auch für Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen und Führungskräfte.
Um das Problem des Co-Verhaltens zu umgehen und möglichst früh eine Änderungsabsicht herbeizuführen, empfehlen sich folgende Maßnahmen:
- Sensibilisierung, Aufklärung und Handlungsempfehlungen bzgl. Co-Verhalten für Führungskräfte und Personalverantwortliche (z.B. Schulungen, Vorträge, Seminare)
- Sensibilisierung und Aufklärung bzgl. Co-Verhalten für Mitarbeiter*innen (z.B. Vorträge, Aktionen im Rahmen von Gesundheitstagen)
- Eine offene Gesprächskultur, frühzeitiges Ansprechen von beobachteten Problemen, ein offenes Ohr für Betroffene und deren Kolleg*innen
- Aufzeigen von Hilfen, Unterstützungsangeboten und Konsequenzen im Rahmen von Interventionsgesprächen innerhalb der betrieblichen Suchtprävention (siehe auch den Beitrag in diesem Blog: https://wirtschaftspsychologie-rhein-ruhr.de/2021/04/26/betriebliche-suchtpraevention-2/)
Sollten Sie Hilfe und Unterstützung bei der Umsetzung von Maßnahmen im Zusammenhang der betrieblichen Suchtprävention wünschen, so sprechen Sie uns gerne an.
Quellen:
Rehwald,, R., Reineke, G., Wienemann, E. & Zinke, E. (2008). Betriebliche Suchtprävention und Suchthilfe. Ein Ratgeber. Frankfurt am Main: Bund Verlag.
Schneider, R. (2019). Die Suchtfibel. Schneider Verlag Hohengehren.