Thema „Online-Lernen“
Ich bin im glorreichen Zeitalter von Commodore C64 und Atari aufgewachsen. In einer Zeit, in der wenig Daten auf großen Floppy-Disks Platz fanden. Als man während des Point & Click Adventures häufig die Diskette wechseln musste und während der Ladezeit viel Zeit hatte, mit seinen Freunden zu plaudern, die sich um den Computer versammelt hatten. In einer Zeit als große Pixel auf kleinen Bildschirmen noch viel Platz für Phantasie ließen. Damals, als die Nutzung von digitaler Technik noch zwangsläufig zur Entschleunigung zwang, während wir gemeinsam ungeduldig darauf warteten, dass der Ladebildschirm endlich wieder verschwand. Die Nutzung eines Computers war ein Abenteuer an sich.
Digitaler Stress fing für mich Mitte der 90er an, als ich mein erstes Modem bekam und mich endlich mit dem Internet verbinden konnte. Der Stress lag hauptsächlich darin, mit meinen Eltern über die Telefonrechnung zu diskutieren. Als ich dann Ende der 90er mein erstes Handy kaufte, schrieb ich nicht mehr nur Mails, sondern viele SMS – die Rechnung dafür inzwischen selbst bezahlend. Damals wurde noch prognostiziert, dass solche Kurznachrichten sich nie durchsetzen würden.
Digitaler Stress – ein Alltagsphänomen
Digitalen Stress kennt inzwischen jeder. Das virtuelle Postfach ist zugemailt bzw. zugemüllt. Das Handy blinkt oder tönt wegen irgendwelchen Benachrichtigungen. Netflix und YouTube haben Autoplay als Standardeinstellung, weshalb Binge Watching – das Schauen von einer Serienfolge nach der anderen – ein neues Modewort geworden ist. Zu viele News, zu viele WhatsApp-Gruppen, zu wenig Zeit und Streit mit der Familie um das Gehört und Gesehen werden.
Früher galt als Nerd, wer sich freiwillig mit Computern beschäftigte. Heute ist seine Benutzung für die meisten Menschen Alltag. Spätestens seit Erfindung des Smartphones wollen auch viele Frauen die aktuellste Technik. Wir leben in einer Abruf-Gesellschaft, in der ein paar Klicks reichen, um an Wissen oder Waren zu gelangen. Die einen spielen, andere teilen Food Porn – Fotos vom Essen, wieder andere lesen eine Meldung nach der anderen. Der virtuelle Raum bietet auch die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden ohne auf physiologische Fallstricke Rücksicht nehmen zu müssen. Als Konsequenz leben viele von uns in parallelen Welten: In der realen Welt der biologischen Bedürfnisse sowie der virtuellen Welt der Netzwerke und Informationen. Der Griff zum Handy ist ein Automatismus geworden.
Aufmerksamkeit – das kostbarste Gut unserer Zeit?
Worin liegt nun das Problem? Internetsucht wurde von der WHO 2018 als Krankheit anerkannt. Aber sind wir alle wirklich mehr oder minder krank, nur weil wir unsere Smartphones ständig zur Hand nehmen oder uns ein SmartHome einrichten? Das menschliche Wahrnehmungssystem ist großartig. Wir können blitzschnell Gefahren erkennen oder für die Zukunft planen. \(^_^)/ Wir können uns über Sprache und Schrift miteinander austauschen! Dieses transaktionale Gedächtnis erlaubt uns, über Generationen Informationen zu teilen und Dinge zu erfinden – beispielsweise Computer und künstliche Intelligenzen ?. Das Problem ist, dass unser Wahrnehmungssystem nicht auf diese technischen Neuerungen ausgelegt ist – ein Großteil unseres Gehirns funktioniert immer noch steinzeitlich. Wir kommen als Hedonisten zu Welt, die auf die Suche nach Süßem gehen und bei Gefahr weglaufen oder kämpfen. Auch wenn wir in sicheren Verhältnissen leben, scannt unser Gehirn permanent, ob etwas lohnenswert oder bedrohlich ist. Und weil sich die Lage ja jederzeit ändern kann, lohnt sich auch immer wieder ein Blick in die gleiche Richtung. So funktioniert die intermittierende Verstärkung bei den Spielautomaten in Las Vegas, genauso wie beim Scrollen durch die neuesten Nachrichten und Videos – es könnte ja doch etwas Interessantes dabei sein. Erfolgreiche Konzerne haben dieses Prinzip schon früh für sich erkannt und buhlen seit Jahren erfolgreich um unsere Aufmerksamkeit. Sie ist die neue Währung unserer Zeit.
Wir haben schlicht zu wenig Aufmerksamkeitskapazitäten. Es gibt zu viele reale und virtuelle Angebote. Während es früher galt, die Aufmerksamkeit eines potentiellen Lesers innerhalb von 20 Sekunden zu gewinnen, sind es heute oft nur noch 8 Sekunden – Lies die Schlagzeile und entscheide, ob es wert ist, die Nachricht zu lesen. Wer diesen Artikel bis hierhin gelesen hat, interessiert sich also wirklich, was ich zu digitalem Stress zu schreiben habe; oder schwelgt nach meiner Einleitung noch in nostalgischen Erinnerungen.
Digitaler Stress wird also unter anderem ausgelöst, weil wir mit Optionen überflutet werden. Weil wir uns permanent entscheiden müssen, welchen Weg oder welchen Thread wir weiterverfolgen. Welche Nachrichten wir ungelesen löschen. Welchen Moden wir nicht folgen. Und die Menge der Informationen und Kontakte nimmt weiter zu. Die Menge der Dinge, die wir im Zeitgeist der Selbstoptimierung wissen können / sollen / wollen, ebenfalls. Es geht um permanente Prioritätensetzung bei hoher Leistung. Die Herausforderung unserer Zeit ist, aus diesem irrsinnigen Überfluss die relevanten Informationen zu filtern, um dann zu entscheiden, ob es sich um etwas Schönes oder Bedrohliches handelt. Zu viele Entscheidungen treffen zu müssen, kann das Ich nachweislich erschöpfen.
Does it spark joy? Oder ist weniger mehr?
So wundert es mich nicht, dass Reportagen über Entrümpelungen, Downsizing und die KonMari-Methode, die Aufräummethode der Japanerin Marie Kondo, Hochkonjunktur haben. Ordnung und sich nur mit Dingen zu umgeben, die notwendig sind oder Freude machen, soll Erleichterung schaffen; während Technik im SmartHome & SmartGarden verspricht, Entscheidungen und Arbeit abzunehmen. Minimalisten gehen noch einen Schritt weiter. Sie entledigen sich aller Dinge im privaten Raum, derer sie sich entledigen können und wollen. Das Zuhause wird ein relativ reizfreier und dadurch erholsamer Raum. Der Flut an Reizen im öffentlichen Raum können wir nur stoisch begegnen – und das eine oder andere versuchen gezielt auszublenden. In den eigenen vier Wänden aber wird die Notwendigkeit sich zu entscheiden minimiert – beispielsweise mit einer Garderobe, die in jeder Kombination zueinander passt, so dass man morgens blind in den Schrank greifen kann. Minimalismus bedeutet, sich in einer Konsumgesellschaft gegen unbegrenztes Wissen und vielfältige Waren zu entscheiden, die Abruf-Gesellschaft aber dennoch gezielt für sich zu nutzen. Um die eigene Aufmerksamkeit auf das für einen selbst Wichtige im Leben zu lenken.
Achtsamkeit oder Langeweile?
Im betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM) ist die Relevanz von Aufmerksamkeitsprozessen für die Stressreduktion schon länger bekannt. Mindfulness Based Stress Reduction heißt hier oft das Schlagwort. Die Achtsamkeit der leistungsorientierten Mitarbeiter soll geschult werden, um ein Burnout zu verhindern. In die gleiche Richtung zielt die Sitzmeditation, bei der die Aufmerksamkeit auf einen einzelnen Aspekt wie den Atem fokussiert wird. Stille und Informationsarmut auszuhalten fällt aber heute vielen Menschen schwer. Erstrecht einfach nichts zu tun. Wir haben uns an permanente Reize und mediale Kurzweile so gewöhnt, dass nichts tun als Lebenszeitverschwendung empfunden und von dem Gefühl begleitet wird, etwas zu verpassen. Außerdem werden Entspannung und Meditation von meinen Klienten oft als weiterer Punkt auf der täglichen ToDo-Liste empfunden. Das Konzept des Müßiggangs – untätig sein, nichts tun, sich der Muße hingeben – ist vielen fremd. Dabei schafft er Raum für zutiefst empfundene Langeweile – eine wahrgenommene Ausdehnung der Zeit, und damit Raum für kreative Prozesse und Selbsterkenntnis.
Rebooten
Immer wieder berichten Leute, wie beruhigend vor dem Einschlafen reizarme Videos sind, in denen Leute im Wald Holz hacken oder einen Teppich reinigen. Sie richten Ihre Aufmerksamkeit auf simple, aber sinnhafte Handlungen anderer. Staubsaugen kann ebenfalls einen meditativen Charakter haben.
Wie wäre es, den virtuellen Raum temporär zu verlassen und solche Tätigkeiten selbst zu erleben? Sich dem Genuss des einfachen Handelns hinzugeben, während alle Geräte ausgeschaltet sind? Handeln um des Müßiggangs Willen. Um einen ganz basalen, tiefempfundenen Sinn in der eigenen Handlung zu erleben ohne diese selbst in Frage zu stellen. Nachdem Sie sich runtergefahren haben, um zu rebooten, könnten Sie erfrischt der spannenden Welt mit all ihren Reizen erneut selbstbestimmt entgegentreten.
Digitaler Stress wird unter anderem dadurch ausgelöst, dass wir sehr auf unsere eigene Aufmerksamkeit achtgeben müssen. Weil uns sonst der Fokus fehlt. Es ist also wichtig, sich selbst bewusst zu machen, wem oder was wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Es gibt sicher noch viele andere Aspekte, unter denen man digitalen Stress betrachten kann. Aber Aufmerksamkeit hat unsere Aufmerksamkeit verdient.