Nicht Selbstbehauptung, sondern Mitarbeiterentwicklung ist das richtige Mindset
Das Senioritätsprinzip ist in unserer Kultur und auch in unserem kollektiven Unbewussten fest verankert: Die ältere Person wird als übergeordnet empfunden. Instinktiv folgt man der erfahreneren Person. Gegen dieses starke Bild muss eine junge Führungskraft, die ältere Mitarbeitende führt, ankämpfen. Weshalb man dabei kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, und welche Einstellung besser ist, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Landläufig wird es als Problem angesehen, wenn die Führungskraft deutlich jünger ist als ihre Mitarbeitenden. Müller (2012) hat mit der Analysemethode der „Kritischen Ereignisse“ 7 typische Spannungsfelder erarbeitet:
- Flexibilität versus Gewohnheit
- Hohes Erfahrungswissen versus Erfahrungsdefizit
- Mutter-/Vaterinstinkte versus Eigenständigkeit
- Zielführende versus scheiternde Kommunikation
- Angst, Unsicherheit, Vorurteile versus Wagemut, Entschlossenheit
- Respekt und Akzeptanz versus Ablehnung und Geringschätzigkeit
- Konkurrenz versus Teamverständnis
Wie können junge Führungskräfte in diesen Spannungsfeldern bestehen?
Die meisten Ratschläge fokussieren auf Durchsetzung. Sich als Jüngerer gegenüber den älteren Beschäftigten zu behaupten, das sei der Dreh- und Angelpunkt. Stimmt das wirklich?
Sicherlich ist eine authentische persönliche und fachliche Autorität hilfreich, um Akzeptanz zu finden. Aber mit der Konzentration auf Selbstbehauptung bewegt man sich im gedanklichen Feld des Konflikts. Das führt zu folgenden drei Holzwegen:
„Mit Härte durchsetzen“
Um ja keine Autorität zu verlieren, wird der Chef autoritär. Er gibt alles bis ins Kleinste vor, hört nicht zu und empfindet jedes Gegenargument als Widerstand.
„Umschmeicheln“
Die älteren Mitarbeitenden werden verbal hofiert, um sie zu befrieden. Die junge Führungskraft kehrt nicht den Boss heraus, sondern ihre Führungsfunktion unter den Teppich.
„Kontakt meiden“
Die junge Führungskraft schleicht quasi um ihre älteren Teammitglieder herum. Solange keine großen Probleme auftauchen, schreitet sie nicht ein.
Vom Machtkampf zur kooperativen Entwicklung
Allen diesen Sackgassen ist gemeinsam, dass die Fähigkeiten der älteren Mitarbeitenden nicht systematisch gefördert wird. Genau das ist aber sinnvoll, denn dort schlummern Leistungsreserven, wenn man den negativen Einfluss von Altersstereotypen bremst.
In meinem Studium Ende der 1970er Jahre lernte ich noch, dass die geistige Leistungsfähigkeit bis in die 50er-Lebensjahre erhalten bleibt. Später entdeckte man, dass ein Abbau erst in den Sechzigern beginnt. Heute findet man in bestimmten Zielgruppen auch jenseits der 70 keine kognitiven Einbußen. Wie ist das zu erklären?
Das Gehirn braucht Training, und je länger eine Person sich geistig fordert (oder gefordert wird!), desto länger bleibt die Leistungsfähigkeit erhalten. Die heute üblichen dauernden Veränderungen in der Arbeitswelt haben also auch das Potenzial, die älteren Mitarbeitenden mental jung zu erhalten. Wenn sie denn bewältigt werden! Und da kommt die Führungskraft ins Spiel…
Dazu möchte ich Ihnen zwei Beispiele aus meiner Erfahrung skizzieren.
Als Herr M. (32) die Leitung des regionalen Außendienstes seiner Firma übernahm, war er erfreut, unter seinen Mitarbeitern Herrn A. (58) wieder zu treffen. Ihn hatte er schon in seiner Ausbildung als hervorragenden Verkäufer kennen gelernt. Intuitiv nahm er an, in Herrn A. eine Stütze zu haben und sich um ihn nicht besonders kümmern zu müssen. Eine weite Führung mit viel Eigenständigkeit ist im Außendienst auch einfach praktisch. So geriet Herr A. fast ein wenig aus dem Blickfeld seines Chef.
Eigentlich gab es keine Probleme. Uneigentlich entwickelte sich die Leistung von Herrn A. aber nicht gut. Insbesondere nach der Umstellung auf ein neues CRM- und Berichtsprogramm kam oft ein kleines Gefühl von Enttäuschung auf, wenn Herr M. sich die Zahlen von Herrn A. anschaute. Das neue Tool sollte helfen, die Verkäufe auf die strategisch gewünschten Produktgruppen zu lenken. Das passierte bei Herrn A. nicht. Er verkaufte anscheinend das, was er schon immer verkauft hatte. Da er in seinem Vertriebsbereich aber einige gute Stammkunden hatte, blieben die Zahlen im Rahmen. Und Herr M. drückte sich um ein Gespräch herum.
In einem Führungsseminar wählte Herr M. diesen Mitarbeiter nun als seinen Beispielfall aus. Schon während er ihn in seiner Kleingruppe beschrieb, wurde ihm klar, dass er den Kompetenzgrad von Herrn A. gar nicht belastbar einschätzen konnte. Seine Erfahrungen als Azubi mit ihm lagen mehr als zehn Jahre zurück. Die Kommentare seiner Kollegen machten ihn nachdenklich: Konnte es denn sein, dass er das Bild des guten, erfahrenen Außendienstlers lediglich auf A. projiziert hatte, weil dieser dem Prototyp eines Senior-Verkäufers äußerlich so gut entsprach? Hatte er sich vor Führungsverantwortung gedrückt, indem er auf ernsthafte Gespräche und gar Kontrolle verzichtete? Brauchte Herr A. vielleicht sogar Hilfe im Umgang mit dem neuen IT-Tool? Oder in seiner Kernkompetenz, der Verkaufsargumentation?
Herr M. übte nun ein klärendes Gespräch mit A. im Rollenspiel. Doch das gelang nicht auf Anhieb. Sein Rollenspielmitarbeiter wich immer aus. Das wäre auch in der Realität zu erwarten, denn wer will schon Unsicherheiten auf den Tisch legen, wenn er ein gutes Image zu verlieren hat! Am Ende des Seminars war Herr M. nachdenklich. Vielleicht sollte er bei Herrn A. genauer hinschauen. Auf dass dieser wieder auf das Leistungsniveau kommt, dass Herr M. in Erinnerung hatte!
Ältere Beschäftigte haben meist genug Erfahrung, um etwaige Probleme aus dem Blickfeld ihres Chefs herauszuhalten. Sie verstecken sich hinter einem guten Image, doch dann werden sie auch allein gelassen. Sicher ist es unangenehm, als gestandene Kraft einem jungen Vorgesetzten Unsicherheiten zuzugeben. Hier kann ein gutes, von Wertschätzung getragenes Gesprächsklima Mut zu mehr Ehrlichkeit machen. Ein geschöntes, hohles Selbstbild ist lange nicht so gut wie Erfolgserlebnisse beim Lernen.
Während in diesem Beispiel der Mitarbeiter unauffällig war, zeigt der nächste Fall, dass man auch Auffälligkeiten falsch einschätzen kann.
Kathrin R. (26) hatte nach ihrem eher mittelprächtigen Bachelor in Geographie bei einem Umweltschutz-Verein vor kurzem eine Teilzeitstelle mit Führungsverantwortung bekommen. Ihr Team bestand aus vier Fachreferenten, die teilweise schon lange dort tätig waren. Da alle sehr motiviert arbeiteten, hielt sie die Aufgabe für leicht. In einer Supervision kam allerdings ein Problemfall hoch, den sie zunächst gar nicht so dramatisch eingeschätzt hatte.
Es ging um Petra F. (54), eine der langjährigen Fachreferenten. Sie hatte supergute Kampagnen durchgeführt, war geübt in der Pressearbeit und dabei selbstbewusst und tough in der Kommunikation. Anfangs war Kathrin mit ihr ein paar Male aneinander geraten. Da Petra mit ihrer Erfahrung die besseren Argumente anbringen konnte, hatte Kathrin sich zurück gezogen. Im Grunde traute sie sich gar nicht mehr an Petra heran und ließ diese machen, was sie wollte.
Die Supervisionsgruppe gab nun als Feedback, dass die Anliegen von Kathrin keinesfalls so leicht vom Tisch zu wischen waren. Die eloquente Verteidigung verschaffte Petra zwar eine bequeme Ruhe, aber birgt auch Gefahren. Kathrins Kritik war unter anderem, dass Petra die von den Vereinsgremien beschlossenen politischen Ziele nicht wirklich umsetzte, sondern die Schwerpunkte mehr nach ihren eigenen Lieblingsthemen festlegte.
Für Kathrin ist Petra im Altersbereich ihrer Mutter. Eine Mutterfigur ist stark, weiß Bescheid und hilft dem Kind. Aber Achtung: Nichts davon ist bei Petra der Fall. Man kann es vielmehr auch so sehen: Sie ist abhängig Beschäftigte, verkennt die Erwartungen an sie und ist im Begriff, ihre Position und die von Kathrin zu gefährden.
Kathrin sollte sich daher nicht von der äußeren Stärke Petras blenden lassen, sondern ihr ihre Sorgen nachdrücklich mitteilen. Auch wenn es sich innerlich komisch anfühlen wird, sollte sie Petra aufrütteln und Änderungen von ihr verlangen, gerade auch zu deren eigenem Wohl.
Wenn eine junge Führungskraft einen älteren Beschäftigten in Ruhe lässt, ist dies für beide zunächst bequem. Doch wird sie so auf Dauer mit seiner Leistung zufrieden sein können? Und bekommt der Mitarbeiter nicht mit der Zeit den schaler Beigeschmack: „Ich bin es wohl nicht mehr wert, dass man sich mit mir beschäftigt“?
Ein gutes Bild für die Führungsverantwortung gegenüber älteren Mitarbeitenden ist für mich das einer Entwicklungspartnerschaft: Die Führungskraft gibt Unterstützung, aber auch Anforderungen und Ziele – der ältere Mitarbeitende bringt sein Erfahrungswissen ein. So können beide profitieren.
Zwei Aspekte sind anders als bei Jüngeren:
- Ältere Beschäftigte reagieren im Durchschnitt empfindlicher auf Kritik als Jüngere. Hier kann es hilfreich sein, vorsichtig zu formulieren, das positive Feedback nicht zu vergessen und allgemein die Beziehungsbasis und das Vertrauen zu stärken
- Ältere Menschen lernen anders als jüngere. Weil sie mehr Vorerfahrungen und Umfeldwissen haben, das sie „umsortieren“ müssen, brauchen sie mehr Gestaltungsfreiraum beim Lernweg.
Warum sollten die letzten Berufsjahre im Arbeitsleben eines Menschen nur davon geprägt sein, dass man sie irgendwie herum kriegt und sich auf die Rente freut? Wäre es nicht schön, dort noch neue Dinge erfolgreich anzugehen – mit einer Reife und Gelassenheit, wie man sie in der Jugend noch nicht hatte? Denken Sie mal nach, wie Sie es gerne hätten …